Gottes Werk und Teufels Beitrag
Ausschau – und vielleicht auch nach Homer Wells. Und darum war sie unvorbereitet darauf, in der Menge das Gesicht des Menschen zu entdecken, den sie am meisten vermißte in ihrer kleinen Welt; der Anblick dieses dunklen, schweren Antlitzes schoß ihr mit einem so schmerzhaften Stich in die alte Schlüsselbeinverletzung, daß ihr der Popcornbehälter aus den Händen fiel.
Melony thronte neben dem kecken jungen Mädchen namens Lorna, saß klobig in ihrem Sitz und strahlte die Autorität eines notorischen, zynischen Kinogängers aus. Sie wirkte wie ein säuerlicher Kritiker, wie ein geborener Mäkler, obwohl das ihr erster Film war. Sogar im grauen Licht des Projektors konnte Mary Agnes Cork ihren alten Quälgeist nicht verfehlen, die Exkönigin und einstige Prügelfrau der Mädchenabteilung.
»Ich glaube, du hast genug von diesem Popcorn, Liebling?« sagte Patty Callahan zu Mary Agnes, der ein Körnchen von dem Zeug in der Kehle steckengeblieben zu sein schien. Und für den Rest der seichten Unterhaltung dieses Abends konnte Mary Agnes den Blick nicht mehr vom prominentesten Mitglied des Publikums abwenden; Melony hätte, fand Mary Agnes Cork, einen Tanzboden leerfegen können mit Fred Astaire, sie hätte Fred alle Knochen brechen können in seinem schmächtigen Leib – sie hätte ihn gelähmt mit nur einem Walzer.
»Siehst du jemand, den du kennst, Liebling?« fragte Ted Callahan Mary Agnes. Er dachte, das arme Mädchen habe sich mit Popcorn so vollgestopft, daß es ihr die Sprache verschlagen hatte.
In der Vorhalle, im kränklichen Neonlicht, marschierte Mary Agnes auf Melony zu, als ob ein Traum ihre Füße lenkte – als ob sie gefangen sei in jener alten, gewalttätigen Trance von Melonys Macht.
»Hallo«, sagte sie.
»Sprichst du mit mir, Kleine?« fragte Lorna, doch Mary Agnes lächelte nur Melony an.
»Hallo, ich bin es«, sagte Mary Agnes.
»Du bist also rausgekommen?« sagte Melony.
»Ich bin adoptiert worden«, sagte Mary Agnes Cork. Ted und Patty standen ein wenig nervös in ihrer Nähe, ohne sich einmischen zu wollen, aber auch ohne sie allzu weit aus den Augen zu lassen. »Das sind Ted und Patty«, sagte Mary Agnes. »Das ist meine Freundin Melony.«
Melony wußte anscheinend nicht, was sie mit den Händen anfangen sollte, die ihr entgegengestreckt wurden. Die robuste kleine Trine namens Lorna klapperte mit den Augen – ihre Wimperntusche hatte ihr eines Augenlid so verklebt, daß es starr offenstand.
»Das ist meine Freundin Lorna«, sagte Melony verlegen.
Alle sagten Hallo! und standen dann herum. Was will die kleine Kröte? dachte Melony.
Und in dem Moment fragte Mary Agnes: »Wo ist Homer?«
»Was?« sagte Melony.
»Homer Wells«, sagte Mary Agnes. »Ist er nicht bei dir?«
»Wieso?« fragte Melony.
»Diese hübschen Leute mit dem Auto …«, fing Mary Agnes an.
»Welches Auto?« fragte Melony.
»Na, es war nicht dasselbe Auto, es war nicht das schöne Auto, aber da war ein Apfel auf der Tür – nie werde ich diesen Apfel vergessen«, sagte Mary Agnes.
Melony legte ihre großen Hände schwer auf Mary Agnes’ Schultern; Mary Agnes fühlte sich durch das Gewicht in den Fußboden gedrückt. »Was redest du da?« fragte Melony.
»Ich habe ein altes Auto gesehen, aber da war dieser Apfel drauf«, sagte Mary Agnes. »Ich dachte, sie sind im Kino, diese hübschen Leute – und Homer auch. Und als ich dich sah, dachte ich, er wäre bestimmt da.«
»Wo war das Auto?« frage Melony, und ihre starken Daumen senkten sich auf Mary Agnes’ Schlüsselbeine. »Zeig mir das Auto!«
»Stimmt etwas nicht?« fragte Ted Callahan.
»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, sagte Melony.
Aber der Lieferwagen war verschwunden. Sie standen in der feuchten Kälte, auf dem matschigen Bürgersteig, und Melony starrte auf den leeren Straßenrand. »Bist du sicher, daß es dieser Apfel war? Er hatte zwei W drauf und Ocean View«, sagte sie.
»Ja, genau«, sagte Mary Agnes. »Es war nur nicht dasselbe Auto, es war ein alter Lieferwagen, aber diesen Apfel würde ich überall wiedererkennen. So etwas vergißt man nicht.«
»Oh, halt die Schnauze«, sagte Melony erschöpft. Sie stand auf dem Bordstein, die Hände in die Hüften gestemmt, mit bebenden Nüstern; sie versuchte Witterung aufzunehmen, so wie ein Hund in der Luft herumschnuppert, um mögliche Anzeichen für einen Übergriff auf sein Revier zu erschnüffeln.
»Was ist los?« fragte Lorna Melony. »War dein Kerl hier, mit seiner
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