Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Doris eingeklemmt. Manchmal kam sie dann neben den blinden Troy. Er befühlte die Kugellagerkugeln auf ihre Perfektion und stocherte sie mit spitzen Fingern in das dicke, unsichtbare Fett. Er war etwas älter als Melony, hatte aber schon immer in den Werften gearbeitet; er war durch einen Unfall beim Schweißen erblindet, und die Werften schuldeten ihm eine Lebensstellung.
    »Wenigstens habe ich diese Sicherheit«, sagte er – dreioder viermal am Tag.
    An manchen Tagen wurde Melony neben ein Mädchen in ihrem Alter gestellt, ein lebhaftes kleines Ding namens Lorna.
    »Es gibt schlimmere Arbeiten«, sagte Lorna eines Tages.
    »Nenn mir eine«, sagte Melony.
    »Bordkanonen schleifen«, sagte Lorna.
    »Davon weiß ich nichts«, sagte Melony. »Ich möchte wetten, jede Kanone ist anders.«
    »Wie kommt es dann bloß, daß alle Männer gleich sind?« fragte Lorna. Melony beschloß, daß Lorna ihr gefiel.
    Lorna hatte geheiratet, als sie siebzehn war – »einen älteren Mann«, sagte sie –, aber es hatte nicht geklappt. Er war Garagenmechaniker, »ungefähr einundzwanzig«, sagte Lorna. »Er heiratete mich nur, weil ich die erste war, mit der er geschlafen hatte«, erzählte Lorna Melony.
    Melony erzählte Lorna, daß sie von ihrem Freund getrennt worden sei – »durch ein reiches Mädchen, das zwischen uns trat«; Lorna pflichtete bei, das sei »das Schlimmste«.
    »Aber ich habe herausgefunden, daß es nur zwei Möglichkeiten gibt«, sagte Melony. »Entweder hat er sie noch immer nicht gefickt, weil sie ihn nicht läßt, und dann hat er herausgefunden, was ihm fehlt. Oder aber, sie läßt ihn fikken mit ihr – in welchem Fall er herausgefunden hat, was ihm fehlt.«
    »Ha! Das ist richtig«, sagte Lorna. Melony schien ihr zu gefallen.
    »Ich habe ein paar Freundinnen«, erzählte sie Melony. »Wir essen Pizza und gehen ins Kino, weißt du.« Melony nickte; sie hatte nichts dergleichen je getan. Lorna war so dünn, wie Melony dick war; sie hatte ebensoviel Knochen wie Melony Fleisch; Lorna war blaß und blond, während Melony dunkel war und immer noch dunkler; Lorna wirkte zerbrechlich, und sie hustete viel, während Melony beinah so stark aussah, wie sie war, und ihre Lunge ein Motor war. Doch die Frauen fühlten, daß sie zusammengehörten.
    Als sie baten, am Fließband nebeneinander gesetzt zu werden, wurde ihre Bitte abgelehnt. Freundschaften, vor allem geschwätzige, galten als kontraproduktiv am Band. Melony durfte also nur neben Lorna arbeiten, wenn das Band wegen eines Krankheitsfalles umbesetzt wurde. Melony erduldete gezwungenermaßen die bescheuerten Moralpredigten von Doris und die verlorenen Kugellagerkugeln von Rollstuhl-Walter, wie alle ihn nannten. Doch die erzwungene Trennung von Lorna am Fließband ließ Melony ihre Bindung nur um so stärker empfinden; ihre Bindung beruhte auf Gegenseitigkeit. Diesen Sonnabend beantragten sie gemeinsam Überstunden, und Seite an Seite arbeiteten sie den ganzen Nachmittag.
    Ungefähr um die Zeit, als Candy und Homer Wells die Brücke über den Kennebec überquerten und in die Innenstadt von Bath rollten, ließ Lorna eine Kugellagerkugel in den Ausschnitt von Melonys Arbeitskittel fallen. Das war immer ihr Zeichen, wenn die eine die andere auf sich aufmerksam machen wollte.
    »Es läuft ein Fred-Astaire-Film in der Stadt«, sagte Lorna kaugummischmatzend. »Willst’n sehen?« 
     
    Auch wenn ihrer Stimme die einstudierte Herzlichkeit eines Dr. Larch fehlte, tat Mrs. Grogan ihr Bestes, um mit ihrer Ankündigung in der Mädchenabteilung Begeisterung zu wecken. »Freuen wir uns für Mary Agnes Cork«, sagte sie; es gab allgemeines Schniefen, doch Mrs. Grogan ließ nicht locker. »Mary Agnes Cork hat eine Familie gefunden. Gute Nacht, Mary Agnes!«
    Es folgten erstickte Seufzer, ein Geräusch, als ob eine in ihr Kissen würgte, und einige der üblichen, niederschmetternden Schluchzer.
    »Freuen wir uns für Mary Agnes Cork!« flehte Mrs. Grogan.
    »Scheiß drauf«, sagte eine in der Dunkelheit.
    »Es tut mir weh, dich so etwas sagen zu hören«, sagte Mrs. Grogan. »Wie tut uns das allen weh! Gute Nacht, Mary Agnes!« rief Mrs. Grogan.
    »Gute Nacht, Mary Agnes«, sagte eine von den Kleineren.
    »Sei vorsichtig, Mary Agnes!« greinte eine.
    Meine Güte, ja! dachte Mrs. Grogan, und Tränen rannen ihr über die Wangen. Ja, sei bloß vorsichtig.
    Larch hatte Mrs. Grogan versichert, die Adoptivfamilie sei besonders gut geeignet für ein älteres Mädchen wie Mary Agnes.

Weitere Kostenlose Bücher