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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß mich einer verpfeift, bevor ich alles hinter mir habe? fragte sich der alte Mann.
    Erst gestern hatte er sich wieder einen Menschen zum Feind gemacht – eine Frau im achten Monat, die behauptet hatte, sie sei erst im vierten. Er hatte sie ablehnen müssen.
    Wenn Frauen hysterisch wurden, konnte er für gewöhnlich einfach nur abwarten. Wenn sie eine feste Hand brauchten, übergab er sie an Schwester Angela; Schwester Edna war besser im Händchenhalten. Mit der Zeit beruhigten sie sich. Wenn eine Frau, wie er meinte, einfach zu spät gekommen war und er es ablehnen mußte, die Abtreibung auszuführen, konnte er die Frau in der Regel überzeugen, daß sie in St. Cloud’s gut aufgehoben war; daß er das Baby entbinden und ihm ein Zuhause finden werde, und daß das viel besser sei als das Risiko einer zu späten Abtreibung.
    Anders bei dieser Frau. Sie war nicht hysterisch. Die Ruhe lange gehegten Hasses machte sie beinah heiter.
    »So ist es also – Sie wollen es nicht machen«, sagte sie.
    »Tut mir leid«, sagte Dr. Larch.
    »Wieviel wollen Sie haben?« fragte die Frau. »Ich kann es auftreiben.«
    »Was immer Sie als Spende für das Waisenhaus aufbringen können, wird dankbar entgegengenommen«, sagte Dr. Larch. »Wenn Sie nichts aufbringen können, ist alles kostenlos. Eine Abtreibung ist kostenlos, die Entbindung ist kostenlos. Eine Spende wird dankbar entgegengenommen. Wenn Sie nicht wissen, wohin, sind Sie willkommen, hier zu bleiben. Sie brauchen nicht mehr lange zu warten.«
    »Sagen Sie mir nur, was ich tun soll«, sagte die Frau. »Soll ich mit Ihnen ficken? In Ordnung, ich ficke mit Ihnen.«
    »Ich möchte, daß Sie das Baby bekommen und mir erlauben, ihm ein Zuhause zu suchen«, sagte Wilbur Larch. »Das ist alles, was ich möchte.«
    Aber die Frau hatte direkt durch ihn hindurchgestarrt. Sie kämpfte sich aus dem zu dick gepolsterten Sessel in Schwester Angelas Büro. Sie betrachtete den Briefbeschwerer auf Larchs Schreibtisch. Es war ein gewichtiges Spekulum, aber es hielt auch eine Menge Papier fest. Die meisten künftigen Pflegefamilien wußten nicht, was es war. Die Frau, die eine verspätete Abtreibung haben wollte, wußte es natürlich; sie starrte es an, als bereite der Anblick ihr Krämpfe. Dann schaute sie aus dem Fenster, wohin sie (wie Dr. Larch sich vorstellte) den Briefbeschwerer am liebsten schleudern wollte.
    Sie nahm das gewichtige Spekulum in die Hand und richtete es wie eine Pistole auf Larch.
    »Das wird Ihnen noch leid tun«, sagte die Frau.
    In seinem Äthernebel sah Wilbur Larch die Frau wieder mit dem Spekulum auf ihn zielen.
    Inwiefern würde es ihm leid tun? fragte er sich.
    »Es tut mir leid«, sagte er laut. Schwester Angela, die auf dem Flur vorbeiging – immer nur vorbeiging –, dachte: Dir sei verziehen; ich verzeihe dir. 
     
    Es war Sonntag und bewölkt – wie üblich. Derselbe Fred-Astaire-Film, der die Einwohner von Bath vergnügte, lief auch in Orono, und die Studenten der University of Maine waren damals, 194–, nicht so zynisch, daß sie ihn sich entgehen lassen hätten. Wally saß mit ein paar Freunden im Kino. Die Nachmittagsvorstellung wurde nicht durch die Nachricht unterbrochen, die den Rest der Welt aufstörte. Man ließ Fred Astaire weitertanzen, und die Kinogänger hörten die Nachricht erst nach der Vorstellung, als sie aus dem sanften Dunkel des Kinosaales ins späte Nachmittagslicht der Innenstadt von Orono hinaustraten.
    Candy fuhr eben mit ihrem Vater zurück nach Camden. Raymond Kendall war besonders stolz auf den Rundfunkempfänger, den er für seinen Chevrolet konstruiert hatte. Er hatte einen viel klareren Empfang, als er damals mit einem normalen Autoradio möglich war. Ray hatte die Peitschenantenne selbst gemacht. Candy und ihr Vater hörten die Nachricht, als alle in Maine sie hörten, und sie hörten sie laut und deutlich.
    Olive hatte immer das Radio an, und sie gehörte deshalb zu den Leuten, die alles mehrfach hören müssen, bevor sie es überhaupt hören. Sie buk einen Apfelkuchen und dünstete eben Apfelmus, und nur die ungewöhnliche Dringlichkeit in der Stimme des Ansagers veranlaßte sie, dem Radio überhaupt Beachtung zu schenken.
    Homer Wells war in Wallys Zimmer und las David Copperfield und dachte an den Himmel – »… an jenen Himmel über mir, wo ich sie in dem Geheimnisvollen, das dereinst kommen wird, mit einer auf Erden unbekannten Liebe lieben und ihr sagen werde, welch ein

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