Gottes Werk und Teufels Beitrag
Eßgeschirr da waren – »Oder für die abgeschnittenen Arme und Beine von Feinden«, sagte Dr. Larch.
Mrs. Grogan hing verloren und schwitzend in ihrem Mantel und sagte: »Ich kapier’s nicht.« Dann fühlte sie das Geld in einer der Taschen. Sie zog ein paar lose Banknoten hervor und zählte sie, und in dem Moment erinnerte sie sich, daß es genau der Betrag war, den Melony ihr gestohlen hatte, als sie aus St. Cloud’s fortgegangen war – und Mrs. Grogans Mantel mitgenommen hatte – vor mehr als fünfzehn Jahren.
»Oh, mein Gott!« weinte Mrs. Grogan und fiel in Ohnmacht.
Schwester Caroline rannte zum Bahnhof, doch Lornas Zug war bereits abgefahren. Als Mrs. Grogan wieder zu sich kam, weinte sie unentwegt.
»Oh, dieses liebe Mädchen!« schluchzte sie, während alle sie trösteten und keiner sprach; Larch und Schwester Angela und Schwester Edna hatten Melony alles andere als »lieb« in Erinnerung. Larch probierte den Mantel an, der auch für ihn beinah zu groß und zu schwer war; er taumelte ein Weilchen in ihm umher und erschreckte eines der kleineren Mädchen aus der Mädchenabteilung, die in die Vorhalle gekommen waren, um nachzusehen, warum Mrs. Grogan weinte.
Larch hatte in einer anderen Tasche etwas gefunden: abgeschnittene, verdrehte Enden von Kupferdraht und eine Drahtschere mit Gummigriffen.
Auf seinem Weg zurück in die Knabenabteilung flüsterte Larch Schwester Angela zu: »Ich möchte wetten, sie hat einen Elektriker ausgeraubt.«
»Einen dicken Elektriker«, sagte Schwester Angela.
»Ihr zwei Lästermäuler«, schalt Schwester Edna. »Es ist jedenfalls ein warmer Mantel – wenigstens wird er sie warm halten.«
»Er wird ihr einen Herzanfall bescheren, wenn sie sich mit ihm abschleppt«, sagte Dr. Larch.
»Ich kann ihn tragen«, warf Schwester Caroline ein. Es war das erste Mal, daß Larch und seine alten Schwestern merkten, daß Schwester Caroline nicht nur jung und energisch war; sie war auch groß und stark – und eine barmherzigere, weniger vulgäre Version von Melony (sofern Melony ebenfalls Marxistin gewesen wäre, dachte Wilbur Larch – und ein Engel).
Larch hatte Schwierigkeiten mit dem Wort »Engel«, seit Homer Wells und Candy St. Cloud’s mit ihrem Angel verlassen hatten. Larch hatte Schwierigkeiten mit dieser ganzen Idee, wie Homer lebte. Seit fünfzehn Jahren hatte Larch sich gewundert darüber, wie die drei – Homer und Candy und Wally – es geschafft hatten; er war sich gar nicht so sicher, was sie geschafft hatten, oder um welchen Preis. Er wußte natürlich, daß Angel ein gewolltes Kind war und sehr geliebt und gut versorgt wurde – sonst hätte Larch nicht Schweigen bewahren können. Es war schwierig für ihn, über alles andere Schweigen zu wahren. Wie hatten die drei sich arrangiert?
Aber wer bin ich schon, um Ehrlichkeit in allen Beziehungen zu fordern? fragte er sich. Ich mit meinen fiktiven Geschichten, ich mit meinen fiktiven Herzfehlern – ich mit meinem Fuzzy Stone.
Und wer war er schon, um die Frage nach der sexuellen Beziehung als solcher zu stellen? Mußte er sich denn ins Gedächtnis rufen, daß er mit einer Mutter geschlafen hatte und sich im Licht der Zigarre ihrer Tochter angekleidet hatte? Daß seinetwegen eine Frau hatte sterben müssen, die sich für Geld den Penis eines Ponys in den Mund gesteckt hatte?
Larch sah aus dem Fenster auf den Hügel mit dem Apfelgarten. Diesen Sommer, 195–, gediehen die Bäume prächtig; die Äpfel waren meist blaßgrün und rosa, die Blätter waren von einem satten Grün. Die Bäume waren beinah zu hoch für Schwester Edna, die sie mit der Aerosolspritze kaum mehr besprühen konnte. Ich muß Schwester Caroline bitten, die Baumpflege zu übernehmen, dachte Larch. Er machte sich eine Notiz und ließ sie in der Schreibmaschine stecken. Die Hitze machte ihn schläfrig. Er ging in die Apotheke und streckte sich auf dem Bett aus. Im Sommer, bei offenen Fenstern, kann ich eine etwas stärkere Dosis riskieren, dachte er.
Der letzte Sommer, in dem Mr. Rose das Kommando über die Pflückermannschaft auf Ocean View hatte, war der Sommer 195–, als Angel Wells fünfzehn war. Den ganzen Sommer über hatte sich Angel schon auf den nächsten Sommer gefreut – wenn er sechzehn wäre und alt genug, um seinen Führerschein zu machen. Bis dahin würde er genug Geld – aus seiner Arbeit im Sommer in den Obstgärten, aus seiner Mitwirkung bei den Ernten – gespart haben, um sich sein erstes Auto zu kaufen.
Sein
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