Gottes Werk und Teufels Beitrag
Olive. »Er kann nichts dafür, wie sehr er sie liebt oder wie sehr er sie braucht.«
Zu Candy war Olive deutlicher. »Er wird verkrüppelt sein. Und er wird mich verlieren. Wenn er auch dich verliert, wer sorgt dann für ihn?«
»Ich werde immer für ihn sorgen«, sagte Candy. »Homer und ich werden für ihn sorgen.«
Aber Olive war nicht so drogenbetäubt, daß ihr die Zweideutigkeit in Candys Antwort entgangen wäre. »Es ist nicht richtig, jemand zu verletzen oder zu täuschen, der bereits verletzt und getäuscht worden ist, Candy«, sagte sie mißbilligend. Bei all den Drogen, die sie nahm, empfand Olive eine absolute Freiheit. An ihr war es nicht, ihnen zu sagen, daß sie wußte, was sie wußte; an ihnen war es, ihr zu sagen, was sie vor ihr verheimlichten. Bis sie es ihr sagten, mochten sie ruhig darüber rätseln, was sie wußte.
Zu Homer sagte Olive: »Er ist eine Waise.«
»Wer?« fragte Homer.
»Er«, sagte sie. »Vergiß nur nicht, wie bedürftig eine Waise ist. Er wird alles nehmen. Dort, wo er herkommt, hatte er gar nichts – wenn er sieht, was er haben kann, wird er alles nehmen, was er sieht. Mein Sohn«, sagte Olive, »tadele niemand. Tadel wird dich töten.«
»Ja«, sagte Homer Wells, der Olives Hand hielt. Als er sich über sie beugte, um auf ihren Atem zu lauschen, küßte sie ihn, als sei er Wally.
»Tadel wird dich töten«, wiederholte er Candy gegenüber, nachdem Olive gestorben war. »›Fürchte die Reue‹«, sagte Homer Wells, in ewiger Erinnerung an Mr. Rochesters Rat.
»Hör auf, mir Sprüche zu zitieren«, sagte Candy zu ihm. »Er kommt nun einmal nach Hause. Und er weiß nicht einmal, daß seine Mutter tot ist. Ganz zu schweigen«, sagte Candy; dann verstummte sie.
»Ganz zu schweigen«, sagte Homer Wells.
Candy und Wally heirateten, kaum einen Monat nachdem Wally heimgekehrt war; Wally wog einhundertsiebenundvierzig Pfund, und Homer Wells schob den Rollstuhl den Mittelgang in der Kirche hinab. Candy und Wally bewohnten das umgebaute Schlafzimmer im Erdgeschoß des großen Hauses.
Homer hatte an Wilbur Larch geschrieben, kurz nachdem Wally heimgekehrt war. Olives Tod (so schrieb Homer an Larch) hatte die Dinge für Homer und Candy endgültiger »geregelt« als Wallys Lähmung oder irgendwelche Gefühle der Schuld oder Niedertracht, die Candy geplagt haben mochten.
»Candy hat recht: Mach Dir keine Sorgen um Angel«, hatte Wilbur Larch an Homer Wells geschrieben. »Angel wird genug Liebe bekommen. Warum sollte er sich als Waise fühlen, wenn er doch keine ist? Du bist ihm ein guter Vater, und Candy ist ihm eine gute Mutter – und wenn er außerdem Wallys Liebe bekommt – glaubst Du wirklich, daß er sich an die Frage klammern wird, wer sein leiblicher Vater ist? Das wird nicht Angels Problem sein. Es wird Dein Problem sein. Du wirst ihn wissen lassen wollen, daß Du sein leiblicher Vater bist, um Deinetwillen – nicht weil er es wissen will. Das Problem ist, daß Ihr es sagen wollen werdet. Du und Candy. Ihr werdet stolz sein. Um Euretwillen wird es sein, und nicht um Angels willen, daß Ihr ihm sagen wollt, daß er keine Waise ist.«
Und für sich selbst, oder als Eintragung in Eine kurze Geschichte von St. Cloud’s, schrieb Wilbur Larch: »Hier in St. Cloud’s haben wir nur ein Problem. Sein Name ist Homer Wells. Er ist ein Problem, wohin auch immer er geht.«
Abgesehen von dem Dunkel in seinen Augen und seiner Fähigkeit, einen nachdenklichen, entrückten Blick anzunehmen, der beides war, wachsam und verträumt, ähnelte Angel Wells seinem Vater sehr wenig. Er sah sich selbst nie als Waise; er wußte, daß er adoptiert worden war, und er wußte, daß er von dort kam, woher sein Vater gekommen war. Und er wußte, daß er geliebt wurde; er spürte es einfach. Was machte es schon, daß er Candy »Candy« und Homer »Daddy« nannte – und Wally »Wally«?
Schon im letzten Sommer war Angel Wells kräftig genug gewesen, um Wally zu tragen – ein paar Treppen hinauf, oder in die Brandung, oder hinaus zum flachen Ende des Swimmingpools und zurück in den Rollstuhl. Homer hatte Angel gelehrt, Wally in die Brandung zu tragen, wenn sie zum Strand gingen. Wally konnte besser schwimmen als sie alle, aber er mußte tief genug ins Wasser gelangen, so daß er entweder über eine Welle hinwegschwimmen oder unter ihr durchtauchen konnte.
»Du darfst nur nicht zulassen, daß er im seichten Wasser umhergeworfen wird«, hatte Homer seinem Sohn erklärt.
Es gab ein paar
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