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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sie gewertet werden.
    Vor kurzem – vielleicht im Bemühen, den Ausschuß zu beleben – hatte Dr. Gingrich ein Treffen in einem Nachsaisonhotel in Ogunquit vorgeschlagen, einfach um die Routine ihrer Sitzungen in ihren gewohnten Amtsräumen in Portland zu unterbrechen. »Machen wir eine Art Betriebsausflug«, schlug er vor. »Mit Meeresluft und so weiter.«
    Aber es regnete. Bei der kalten Witterung zog sich das Holz zusammen; der Sand kroch durch Fenster und Türen und knirschte unter den Füßen; die Vorhänge, Handtücher und Bettlaken waren kratzig. Der Wind wehte vom Ozean herein; man konnte nicht auf der Veranda sitzen, weil der Wind den Regen unter das Dach trieb. Das Hotel stellte ihnen einen langen, finsteren, leeren Speisesaal zur Verfügung; sie hielten ihre Versammlung unter einem Kandelaber ab, den niemand einschalten konnte – niemand fand den richtigen Schalter.
    Es paßte zu ihrer Diskussion über St. Cloud’s, daß sie ihrer Amtsgeschäfte in einem einstigen Ballsaal zu walten versuchten, der bessere Tage gesehen hatte, in einem Hotel, so tief in der Nachsaison, daß jeder, der sie dort sah, vermutet hätte, sie wären in Quarantäne. Genau das dachte Homer, als er sie flüchtig erspähte; er und Candy waren die einzigen anderen Nachsaisongäste in dem Hotel. Sie hatten ein Zimmer genommen, für einen halben Tag; sie waren weit fort von Ocean View, aber sie wollten so weit wegfahren, um sicher zu sein, daß niemand sie erkennen würde.
    Es war Zeit für sie aufzubrechen. Sie standen draußen auf der Veranda, Candy mit dem Rücken an Homers Brust gelehnt, seine Arme um sie geschlungen; sie blickten beide hinaus aufs Meer. Anscheinend gefiel es ihm, wie der Wind ihm ihr Haar ins Gesicht peitschte, und anscheinend hatte keiner von beiden etwas gegen den Regen einzuwenden.
    Drinnen im Hotel blickte Mrs. Goodhall durch die flekkigen Fensterscheiben und runzelte die Stirn über das Wetter und über das junge Paar, das den Elementen trotzte. In ihren Augen war das alles nicht richtig normal. Und genau das stimmte nicht mit Larch; ein Mensch kann neunzig Jahre und älter werden, ohne senil zu sein, das hätte sie zugegeben, aber Larch war einfach nicht normal. Und selbst wenn es sich bei den beiden um ein junges Ehepaar handelte, war ein öffentliches Bekunden von Zuneigung nicht akzeptabel für Mrs. Goodhall – und sie zogen um so mehr Aufmerksamkeit auf sich, als sie dem Regen trotzten.
    »Außerdem«, bemerkte sie zu Dr. Gingrich, der keine Vorwarnung erhalten hatte und keine Landkarte besaß, anhand deren er ihren Gedankensprüngen hätte folgen können, »wette ich, daß sie nicht verheiratet sind.«
    Das junge Paar, dachte er, schaute ein wenig traurig drein. Vielleicht brauchten sie einen Psychiater; vielleicht war es das Wetter, und sie hatten vorgehabt zu segeln.
    »Ich habe herausgefunden, was er ist«, sagte Mrs. Goodhall zu Dr. Gingrich, der glaubte, sie meine den jungen Mann, Homer Wells. »Er ist ein nicht-praktizierender Homosexueller«, verkündete Mrs. Goodhall. Sie meinte Dr. Larch, der ihr Tag und Nacht nicht aus dem Kopf ging.
    Dr. Gingrich war einigermaßen verblüfft über diese, wie er fand, ziemlich wilde Vermutung von Mrs. Goodhall, doch er musterte den jungen Mann mit neuem Interesse. Gewiß, er liebkoste die junge Frau nicht sehr hingebungsvoll; er wirkte ein wenig zurückhaltend.
    »Wenn wir ihn auf frischer Tat ertappen würden, dann hätten wir ihn im nächsten Moment draußen«, stellte Mrs. Goodhall fest. »Natürlich müßten wir immer noch jemanden finden, der bereit wäre, ihn abzulösen.«
    Dr. Gingrich war verwirrt. Er begriff, daß Mrs. Goodhall nicht daran interessiert sein konnte, den jungen Mann auf der Veranda abzulösen, und daß sie folglich immer noch an Dr. Larch dachte. Doch wenn Dr. Larch ein »nicht-praktizierender Homosexueller« war, auf welcher frischen Tat wollten sie ihn dann jemals ertappen?
    »Wir sollen ihn dabei ertappen, wie er ein Homosexueller ist, aber nicht richtig praktizierend?« fragte Dr. Gingrich behutsam; es war nicht schwer, Mrs. Goodhall in Rage zu bringen.
    »Er ist offenkundig schwul«, schnarrte sie.
    Dr. Gingrich hatte sich in all den Jahren seiner psychiatrischen Praxis in Maine niemals veranlaßt gesehen, jemand als »nicht-praktizierenden Homosexuellen« zu bezeichnen, auch wenn er so etwas öfter gehört hatte, wenn ein Patient sich über die Wunderlichkeit seines Partners beklagte. Mrs. Goodhall dagegen verachtete Männer,

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