Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
seinen sinkenden Lebensgeistern mit einem Ätherräuschlein auf.
     
    Eines Nachts, als Wilbur in der South-End-Zweigstelle der Bostoner Entbindungsanstalt vor sich hin döste, weckte ihn einer der Ärzte auf, weil ein Notfall eingeliefert worden und er an der Reihe war. Obwohl sie seit ihrer letzten Begegnung viel Gewicht und all ihre Jugendlichkeit verloren hatte, erkannte Larch Mrs. Eames mühelos wieder. Sie war so verängstigt und litt so heftige Schmerzen, daß sie nach Atem rang und der Empfangsschwester nur japsend ihren Namen nennen konnte.
    »Reimt sich auf screams«, sagte Dr. Larch hilfsbereit.
    Sofern Mrs. Eames ihn ebenfalls sofort erkannte, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie fühlte sich kalt an, ihr Puls ging sehr schnell, und ihr Unterleib war hart und weiß wie die Knöchel einer geballten Faust; Larch konnte keine Anzeichen von Wehen feststellen, und er hörte auch nicht die Herzschläge des Fötus, den Larch sich unwillkürlich mit ähnlichen Gesichtszügen vorstellte wie Mrs. Eames’ verdrießliche Tochter. Wie alt mochte sie jetzt sein? fragte er sich. Immer noch ungefähr in seinem Alter – so viel Zeit hatte er noch, sich daran zu erinnern, bevor er sich der Diagnose der Mrs. Eames zuwandte: Blutung im Bauchraum. Er operierte, sobald der Assistent die nötigen Spender für eine Transfusion ermitteln konnte.
    »Missus Eames?« fragte er leise und wartete immer noch auf ein Zeichen des Wiedererkennens von ihr.
    »Wie geht’s Ihrem Vater, Wilbur?« fragte sie, kurz bevor er operierte.
    Ihr Unterleib war voll Blut; er saugte es ab, suchte nach der Ursache und sah, daß die Blutung von einem sechs Zoll langen Riß in der Rückwand ihres Uterus ausging. Larch nahm einen Kaiserschnitt vor und entband ein totgeborenes Kind – dessen verkniffenes, verächtliches Gesicht ihn nachdrücklich an die zigarrenschmauchende Tochter erinnerte. Er fragte sich, warum Mrs. Eames alleine gekommen war.
    Bis zu diesem Punkt der Operation hatte der junge Larch das Gefühl, alles im Griff zu haben. Trotz seiner Erinnerungen an die aufgeschnittene Frau vor ihm – und an die von ihr übertragene Krankheit, die er erst kürzlich losgeworden war – hatte er das Gefühl, einen leidlich problemlosen Notfall vor sich zu haben. Doch als er Mrs. Eames’ Uterus zu nähen versuchte, rutschte sein Faden in einem Gewebe, das die Konsistenz von Weichkäse hatte, einfach weg – man stelle sich vor, einen Münsterkäse zusammenzunähen! Er hatte keine andere Wahl; er mußte den Uterus entfernen. Larch wunderte sich nur, daß Mrs. Eames’ Zustand nach all den Bluttransfusionen einigermaßen stabil zu sein schien.
    Am anderen Morgen konsultierte er einen Chefchirurgen. In der Bostoner Entbindungsanstalt war es die Regel, daß der Geburtshelfer eine chirurgische Ausbildung hatte – Larch hatte seine Assistentenzeit in der Chirurgischen Abteilung des Massachusetts General Hospital verbracht –, und der Chefchirurg teilte Larchs Verblüffung über die brüchige Beschaffenheit von Mrs. Eames’ Uterus. Selbst der Riß war ein Rätsel. Es gab keine Narbe von einem früheren Kaiserschnitt, die hätte nachgeben können; die Plazenta konnte die Uteruswand nicht geschwächt haben, weil die Nachgeburt auf der dem Riß gegenüberliegenden Seite des Uterus gelegen hatte. Es lag auch kein Tumor vor.
    Achtundvierzig Stunden lang ging es Mrs. Eames sehr gut. Sie kondolierte dem jungen Wilbur zum Tode seiner Eltern. »Ihre Mutter hab ich natürlich nie kennengelernt«, gestand sie. Wieder brachte sie ihre Sorge zum Ausdruck, daß Wilbur auf ihren Ruf achten möge, was Wilbur zu tun versprach (und getan hatte – indem er dem Chefchirurgen gegenüber seine Befürchtungen für sich behalten hatte, daß Mrs. Eames’ Zustand vielleicht bis zu einem gewissen Grade die Folge einer Gonorrhöe sein könnte). Er fragte sich einen Moment, welche Geschichte Mrs. Eames gegenwärtig hinsichtlich ihres guten Rufes benutzte: ob sie in Portland oder in Boston ein anständiges Leben zu führen behauptete; ob eine dritte Stadt jetzt im Spiel war und zwangsläufig ein drittes fiktives Leben.
    Am dritten Tag nach der Entfernung ihres merkwürdigen Uterus füllte sich Mrs. Eames wieder mit Blut, und Wilbur Larch öffnete ihre Wunde; diesmal hatte er wirklich Angst, was er finden würde. Zuerst war er erleichtert; in ihrem Unterleib war nicht so viel Blut wie vorher. Aber als er das Blut absaugte, perforierte er den Darm, den er kaum berührt

Weitere Kostenlose Bücher