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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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zu Candy, die ihr das Erdgeschoß zeigte. Homer zeigte ihr das Obergeschoß. Auf dem Flur zwischen Homers und Angels Zimmer flüsterte Melony ihm zu: »Junge, du hast es wirklich gut getroffen. Wie hast du das geschafft, Sonnenstrahl?« Wie weidete sie sich an ihm mit ihren gelbbraunen Augen! »Du hast sogar einen großartigen Ausblick!« stellte sie fest, als sie auf dem Ehebett saß und aus dem Fenster schaute.
    Als sie bat, die Toilette benutzen zu dürfen, ging Homer hinunter, um ein Wort mit Candy zu wechseln, aber Angel trödelte immer noch herum, immer noch vergnügt und neugierig. Der Eindruck, den das gewalttätige Wesen der ersten Freundin seines Vaters auf den Jungen gemacht hatte, war beträchtlich; wenn Angel bisher die Frage beunruhigt hatte, warum sein Vater ein so einsames Leben führte, dann hatte die gewaltige Erscheinung, die sich ihm heute dargeboten hatte, ihn wohl zu beruhigen vermocht. Wenn sein Vater mit dieser bedrohlichen Frau seine ersten Erfahrungen gemacht hatte, dann war es (für Angel) verständlich, wieso Homer so eine Beziehung nur ungern wiederholen wollte.
    Melony schien viel Zeit zu brauchen auf der Toilette, und Homer war dankbar für diese Zeit; er brauchte sie, um Candy und Angel davon zu überzeugen, daß sie wieder an die Arbeit gingen und ihn mit Melony allein ließen. »Sie sucht Arbeit«, sagte er eindringlich zu ihnen. »Ich brauche etwas Zeit mit ihr, allein.«
    »Arbeit«, sagte Candy – und erschrak erneut.
    Beim bloßen Gedanken daran kniff sie unwillkürlich ihre hübschen Augen zusammen.
    Spiegel waren nie Melonys Freunde gewesen, doch der Spiegel in Homers Badezimmer war besonders grausam zu ihr. Sie durchstöberte rasch das Apothekerschränkchen; ohne Grund warf sie einige von den Pillen in die Toilette. Sie fing an, Rasierklingen aus einem schlichten Blechspender auszuwerfen. Sie hörte erst damit auf, als der Spender leer war. Sie schnitt sich in den Finger bei dem Versuch, eine der Klingen vom Boden aufzuheben. Sie hatte ihren Finger in den Mund gesteckt, als sie sich zum erstenmal im Spiegel anschaute. Sie hielt die Rasierklinge in der anderen Hand, während sie die mehr als vierzig Jahre in ihrem Gesicht musterte. Oh, ich bin niemals attraktiv oder gar hübsch gewesen, aber zumindest eine wirksame Waffe, dachte sie; jetzt war sie sich nicht so sicher. Sie hielt die Rasierklinge an den Tränensack unter dem einen Auge; sie schloß dieses Auge, als könne das Auge selbst nicht mit ansehen, was sie tun würde. Dann tat sie nichts. Nach einer Weile legte sie die Rasierklinge auf den Rand des Waschbeckens und weinte.
    Später fand sie ein Feuerzeug; Candy mußte es im Badezimmer liegengelassen haben; Homer rauchte nicht; Wally konnte keine Treppen steigen. Sie nahm das Feuerzeug und brachte damit den Griff von Homers Zahnbürste zum Schmelzen; sie versenkte die Rasierklinge in den weichsten Teil und wartete, bis der Griff wieder hart wurde. Wenn ich das Borstenende mit der Hand umklammere, habe ich eine nette kleine Waffe, dachte sie.
    Dann sah sie den fünfzehn Jahre alten Fragebogen des Treuhänderausschusses von St. Cloud’s; das Papier war so alt, daß sie vorsichtig sein mußte, um es nicht zu zerreißen. Wie diese alten Fragen doch ihre Seele aufwühlten! Sie warf die Zahnbürste mit der Rasierklinge ins Waschbecken, dann hob sie sie wieder auf und legte sie in das Apothekerschränkchen, dann nahm sie sie wieder heraus. Sie übergab sich einmal und spülte zweimal die Toilette.
    Melony blieb lange Zeit oben im Badezimmer. Als sie herunterkam, wartete Homer in der Küche; sie hatte genug Zeit für sich alleine gehabt, um mehrere Gemütsumschwünge zu durchleben und sich über ihre wahren Gefühle klarzuwerden – darüber, daß sie Homer in dieser Umgebung vorgefunden hatte, in einer, wie sie vermutete, erbärmlichen Situation. Möglich, daß sie sich ein paar Minuten an dem Unbehagen ergötzt hatte, das sie ihm bereitete, doch als sie herunterkam, war sie nicht mehr vergnügt, und ihre Enttäuschung über Homer Wells war noch größer als ihre beharrliche Wut – sie war beinah gleichbedeutend mit Trauer.
    »Irgendwie dachte ich, du würdest am Ende was Besseres machen als die Frau eines armen Krüppels bumsen und dein eigenes Kind verleugnen«, sagte Melony zu Homer Wells. »Ausgerechnet du – du, eine Waise«, erinnerte sie ihn.
    »Ganz so ist es nicht«, begann er, aber sie schüttelte ihren mächtigen Kopf und schaute in eine andere Richtung.
    »Ich

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