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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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»Gute Nacht.«
    »Gute Nacht«, sagte Homer Wells.
    Im Erdgeschoß wußte er nicht, ob Wally und Candy zu Bett gegangen waren oder ob Wally allein im Bett war; die Schlafzimmertür war geschlossen, und es kam kein Licht durch den Spalt unter der Tür. Aber irgend jemand hatte Licht in der Küche angelassen, und die Außenleuchten an den Masten am Ende der Einfahrt brannten noch. Er ging ins Apfelmarktbüro, um die Post durchzusehen; wenn sie Licht im Büro sah, würde Candy wissen, wo er war. Und wenn sie schon losgegangen war zum Ciderhaus, konnte er vom Büro aus hingehen; es wäre klug, das Bürolicht dann brennen zu lassen und es erst auszumachen, wenn er vom Ciderhaus zurückkehrte. Auf diese Weise mochte Wally, wenn er wach wurde und Licht sah, glauben, daß Homer oder Candy noch immer im Büro arbeiteten.
    Das Paket aus St. Cloud’s, das am Tag von Melonys Besuch eingetroffen war, erschreckte Homer. Er wollte es beinah nicht öffnen. Der Alte schickt mir wahrscheinlich Irrigatorbeutel! dachte Homer Wells. Er war schockiert, als er die schwarzlederne Arzttasche sah: Das Leder war abgewetzt und weich, das Messingschloß war matt und stumpf wie die Gurtschnalle eines alten Sattels. Doch so verschlissen und gebraucht die Tasche insgesamt aussah, so strahlend traten ihre goldenen Initialen hervor:
F. S. 
     
    Homer Wells öffnete die Tasche und schnupperte hinein; er erwartete den herzhaften, männlichen Geruch von altem Leder, aber vermischt mit dem Ledergeruch waren die femininen Spuren des scharfen Ätherdufts. Da entdeckte Homer Wells – mit einem Atemzug – eine Spur der Identität, die Dr. Larch für Fuzzy Stone aufgebaut hatte.
    »Doktor Stone«, sagte Homer laut und erinnerte sich daran, wie Larch ihn angesprochen hatte, als sei er Fuzzy.
    Er wollte nicht zurück ins Haus gehen, um die Arzttasche wegzustellen, aber er wollte sie auch nicht im Büro lassen; wenn er ins Büro zurückkehrte, um das Licht auszumachen, fürchtete er, die Tasche zu vergessen. Und das Entscheidende an einer guten Arzttasche ist, daß sie bequem zu tragen ist. Also nahm er sie mit zum Ciderhaus. Die Tasche war natürlich leer – was sich für Homer nicht so ganz richtig anfühlte –, und darum pflückte er ein paar Gravensteiner und einige frühe Macs auf dem Weg zum Ciderhaus und legte die Äpfel in die Tasche. Natürlich rollten die Äpfel hin und her; das fühlte sich nicht ganz echt an. »Doktor Stone«, murmelte er einmal nickend, während er durchs hohe Gras stakste.
    Candy hatte seit einer Weile auf ihn gewartet, lange genug, um mit den Nerven am Ende zu sein. Er dachte, wenn es nun andersherum wäre – wenn sie es wäre, die alles abbrechen wollte –, dann würde er genauso verwirrt sein wie sie jetzt.
    Es zerriß ihm das Herz, als er sah, daß sie eines der Betten bezogen hatte. Die sauberen Laken und die Decken waren bereits ins Ciderhaus gebracht worden und harrten der Pflückermannschaft, die Matratzen lagen aufgerollt am Fußende der Betten. Candy hatte das Bett bezogen, das am weitesten von der Küchentür entfernt stand. Sie hatte eine Kerze vom Haus mitgebracht und sie angezündet – sie gab der rauhen Baracke ein sanfteres Licht, obwohl Kerzen eigentlich gegen die Regeln verstießen. Erst kürzlich hatte Homer es für nötig befunden, die Kerzen auf seiner Liste aufzuführen; einer der Pflücker hatte vor ein paar Jahren mit einer Kerze einen kleinen Brand verursacht.
Bitte im Bett nicht zu rauchen – und bitte keine Kerzen anzünden! 
    So hatte er die Regel formuliert.
    Das Kerzenlicht war schwach; es war vom Puppenhaus aus nicht zu sehen.
    Candy hatte sich nicht ausgezogen, aber sie saß auf dem Bett – und sie hatte ihr Haar ausgebürstet. Ihre Bürste lag auf der Apfelkiste, die als Nachttischchen diente, und dieser alltägliche Gegenstand von solcher Vertrautheit und Häuslichkeit bereitete Homer Wells (mit der schwarzen Arzttasche in der Hand) einen überwältigenden Schauder. Plötzlich erblickte er sich selbst – als hilflosen Arzt, auf Hausbesuch bei einem Menschen, der nicht mehr lange zu leben hat.
    »Tut mir leid«, sagte er leise zu ihr. »Wir haben es versucht – wir haben es wahrhaftig versucht –, aber es geht nicht. Nur die Wahrheit wird gehen.« Seine eigene Stimme krächzte vor lauter Schwülstigkeit.
    Candy saß da, die Knie zusammengedrückt und die Hände im Schoß: sie zitterte. »Glaubst du wirklich, Angel ist alt genug, um das alles zu wissen?« flüsterte sie, als sei der

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