Gottes Werk und Teufels Beitrag
er sich daran, daß Melony den Fragebogen hatte. Er hatte keine Zeit zu vertrödeln. Er sagte Schwester Angela, daß es eine Versammlung geben werde nach dem Abendbrot, wenn die Kinder ins Bett gebracht worden wären.
Schwester Angela konnte sich nicht erinnern, daß es in St. Cloud’s jemals eine Versammlung gegeben hätte, außer jener höchst unangenehmen mit dem Treuhänderausschuß; wenn es jetzt wieder eine Versammlung geben sollte, so nahm sie an, daß der Ausschuß im Spiel war.
»Oh, du liebe Güte, eine Versammlung«, sagte Schwester Edna; sie war den ganzen Tag aufgeregt.
Mrs. Grogan war ebenfalls beunruhigt. Sie sorgte sich darüber, wo die Versammlung stattfinden würde – als könnte sie sie verpassen oder vielleicht gar nicht finden.
»Ich glaube, wir können die Möglichkeiten einschränken«, versicherte ihr Schwester Caroline.
Den ganzen Tag arbeitete Wilbur Larch in Schwester Angelas Büro. Es wurden an diesem Tag keine Babys geboren; und die eine Frau, die eine Abtreibung vorgenommen haben wollte, wurde willkommen geheißen, man machte es ihr bequem und sagte ihr, sie könne ihre Abtreibung morgen bekommen. Wilbur Larch wollte Schwester Angelas Büro nicht verlassen, auch nicht zu Mittag, auch nicht zum Tee, nicht einmal für die Werke des Herrn.
Er legte letzte Hand an die Geschichte des guten Doktor Fuzzy Stone; Larch schrieb auch den Nachruf auf Homer Wells. Armer Homer, sein Herz: die Härten eines Farmerlebens und eine hoch cholesterinhaltige Ernährung – »Eine Waise ist ein Fleischesser, eine Waise ist immer hungrig«, schrieb Wilbur Larch.
Dr. Stone dagegen war keine typische Waise. Larch charakterisierte Fuzzy Stone als »hager und hart«. Wer immerhin unter all den Waisen hätte jemals gewagt, Dr. Larch herauszufordern? Und hier kam Fuzzy Stone und drohte, seinen alten Mentor ins Kittchen zu bringen! Nicht genug, daß er es wagte, Dr. Larchs Ansichten über die Abtreibung anzugreifen, Fuzzy Stone hatte überdies so entschiedene Ansichten zu dem Thema, daß er wiederholt androhte, Dr. Larch beim Ausschuß anzuzeigen. Und nun erst wurde Fuzzy in seinem Eifer durch die Selbstgerechtigkeit eines echten Missionars bestärkt, denn Larch wußte, daß der sicherste Ort, wo Dr. Stone als Arzt praktizieren konnte, dort war, wo ihn der Ausschuß niemals aufspüren konnte. Fuzzy bekämpfte die Diarrhöe bei den hungernden Kindern Asiens. Larch hatte gerade in einem Artikel in The Lancet gelesen, daß Diarrhöe in jenem Teil der Welt als Kindermörder Nummer eins gelte. (Homer Wells, der nicht wußte, daß sein Herz schlappgemacht hatte, hatte denselben Artikel gelesen.) Die anderen Details über Birma und Indien – die Fuzzys zornigen Briefen an Wilbur Larch so missionarische Echtheit verliehen – entnahm Larch seiner Erinnerung an das, was Wally bei seiner qualvollen Reise dort erlebt hatte.
Es war ein anstrengender Tag für Larch gewesen, der auch schon in anderen Rollen an den Treuhänderausschuß geschrieben hatte. Er hätte Äther dem Abendbrot vorgezogen, auch wenn ihn das Abendbrot voraussichtlich standfester machen würde für diese Versammlung, die seine tyrannisierten Mitarbeiterinnen fürchteten. Larch las einen so kurzen Abschnitt aus Jane Eyre vor, daß alle Mädchen in der Mädchenabteilung noch wach waren, als er sie verließ, und er las einen so kurzen Teil von David Copperfield, daß zwei der Jungen sich beklagten.
»Tut mir leid, das ist alles, was David Copperfield heute passiert ist«, sagte Dr. Larch zu ihnen. »David hatte keinen so besonders guten Tag.«
Wilbur Larch hatte einen besonders guten Tag gehabt, das wußten Mrs. Grogan und seine Krankenschwestern. Er ließ sie alle in Schwester Angelas Büro zusammenkommen, als ziehe er Trost aus dem Papierwust und der düsteren, einengenden Gegenwart seiner umfangreichen Kurzen Geschichte von St. Cloud’s, die sich um ihn her auftürmte. Er stützte sich auf seine überstrapazierte Schreibmaschine, als sei die Maschine ein Katheder.
»So!« sagte er, weil die Frauen schwatzten. »So!« wiederholte er und schwang das Wort wie einen Hammer, um die Versammlung zur Ordnung zu rufen. »So, und jetzt werden wir ihnen auf der Paßhöhe den Weg abschneiden.«
Schwester Edna fragte sich, ob er sich zum Bahnhof hinuntergeschlichen habe, um sich mit dem Bahnhofsvorsteher im Fernsehen Westernfilme anzusehen; Schwester Edna machte das ziemlich oft. Sie liebte Roy Rogers mehr als Hopalong Cassidy; sie wünschte sich, Roy möge
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