Gottes Werk und Teufels Beitrag
Protokoll der Angelegenheiten des Waisenhauses – schrieb Dr. Wilbur Larch auch über den Herbst. Jede von Dr. Larchs Eintragungen begann mit: »Hier in St. Cloud’s …« – abgesehen von jenen Eintragungen, die begannen: »In anderen Teilen der Welt …« Über den Herbst schrieb Dr. Larch: »In anderen Teilen der Welt ist der Herbst die Zeit der Ernte. Man sammelt die Früchte der Mühen von Frühling und Sommer. Diese Früchte nähren uns während des langen Schlummers, der Zeit stockenden Wachstums, die wir Winter nennen. Doch hier in St. Cloud’s dauert der Herbst nur fünf Minuten.«
Welches andere Klima hätte denn zu einem Waisenhaus gepaßt? Kurort-Wetter etwa? Würde ein Waisenhaus in einer harmlosen Stadt gedeihen?
In seinem Tagebuch ging Dr. Larch vorbildlich umweltbewußt mit dem Papier um. Er schrieb die Blätter mit seiner kleinen, gedrängten Schrift beidseitig voll. Dr. Larch war nicht der Typ, der Ränder ließ. »Hier in St. Cloud’s«, schrieb er, »darf man dreimal raten: Wer hat die Wälder von Maine auf dem Gewissen, wer ist der schurkische Vater der unerwünschten Babys, wer ist schuld, daß der Fluß an totem Holz erstickt, daß das Tal verödet, versteppt und erodiert? Dreimal darf man raten, wie der unersättliche Zerstörer heißt (des Waldarbeiters mit seinen verpichten Händen und seinen zerquetschten Fingern; des Holzfällers und Sägemühlensklaven, dessen Hände spröde und rissig sind und manche Finger nur Erinnerung) und warum sich dieser Nimmersatt nie mit Balken oder mit Brettern zufriedengibt …«
Für Dr. Larch war der Feind das Papier – genauer, die Ramses-Papierfabrik. Für Balken und Bretter gab es genug Bäume, stellte Dr. Larch sich vor, niemals aber für all das Papier, das die Ramses-Papierfabrik zu benötigen schien – vor allem, wenn man versäumte, neue Bäume zu pflanzen. Als das Tal um St. Cloud’s gerodet war, als der Wildwuchs (Krüppelkiefern und einzelne ungehegte Nadelhölzer) überall aufschoß wie Sumpfblüten und es keine Baumstämme mehr auf dem Fluß von Three Mile Falls nach St. Cloud’s hinabzuschicken gab – weil es keine Bäume mehr gab –, da eröffnete die Ramses-Papierfabrik für St. Cloud’s das zwanzigste Jahrhundert, indem sie die Sägemühle und den Holzhof am Fluß in St. Cloud’s schloß und mit Sack und Pack flußabwärts zog.
Und was blieb zurück? Das Wetter, der Sägestaub, die zerklüfteten und geschändeten Ufer des Flusses (wo die großen Balken triftend, sich verkeilend eine neue wunde Böschung ausgekerbt hatten) und die Gebäude selbst: die Sägemühle mit ihren kaputten Fenstern ohne Scheiben; die Hurenherberge mit ihrem Tanzsaal im Parterre, der Bingoum-Geld-Halle, die den reißenden Fluß überblickte; die wenigen Privathäuser im Blockhausstil und die Kirche, eine katholische, für die Frankokanadier, die allzu sauber und unbenutzt wirkte, um zu St. Cloud’s zu gehören, wo sie sich niemals solcher Beliebtheit erfreut hatte wie die Huren oder der Tanzsaal oder gar Bingo-um-Geld. (In seinem Tagebuch schrieb Dr. Larch: »In anderen Teilen der Welt spielt man Tennis oder Poker; hier in St. Cloud’s spielt man Bingo-um-Geld.«)
Und die Leute, die zurückblieben? Von der Ramses-Papierfabrik war keiner mehr da, dafür gab es die andern: die Alten, die weniger attraktiven Prostituierten und die Kinder dieser Prostituierten. Nicht einer der ungeliebten Offizianten der katholischen Kirche zu St. Cloud’s wollte bleiben; es gab mehr Seelen zu retten, wenn man der Ramses-Papierfabrik flußabwärts folgte.
In seiner Kurzen Geschichte von St. Cloud’s belegt Dr. Larch, daß zumindest eine dieser Prostituierten lesen und schreiben konnte. Mit der letzten Barke, die der Ramses-Papierfabrik flußab in eine neue Zivilisation folgte, hatte eine relativ schreibkundige Prostituierte einen Brief abgeschickt, adressiert an: irgendeinen beamten des staates maine, der für waisen zuständig ist!
Irgendwie erreichte dieser Brief sogar irgend jemanden. Vielmals umgeleitet (»wegen seiner Merkwürdigkeit«, schrieb Dr. Larch, »wie auch wegen seiner Dringlichkeit«), erreichte der Brief schließlich die Amtsärztekammer von Maine. Dem jüngsten Mitglied dieser Kammer – »einem jungen Springinsfeld, frisch von der Medizinischen Fakultät«, wie Dr. Larch sich selbst bezeichnete – wurde der Brief wie ein Köder vorgehalten. Der Rest der Kammer meinte, der junge Larch sei »der einzige hoffnungslos naive Demokrat und Liberale«
Weitere Kostenlose Bücher