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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Hirngeschädigtes, ein Trottelchen –, daß Dr. Larch ihnen nicht lange beteuern wollte, daß Homer nicht nur kerngesund sei, sondern auch mit Mut und Beharrlichkeit gerüstet für das Leben, das vor ihm lag.
    Die zweite Pflegefamilie reagierte anders auf Homers Lautlosigkeit – seine stoische, mit zusammengebissenen Zähnen alles runterschluckende Gemütsruhe. Seine zweite Pflegefamilie prügelte das Kind so regelmäßig, daß sie es schafften, ihm die angemessen kindertümlichen Laute zu entlocken. Homers Geschrei war seine Rettung.
    Hatte er sich erst als tapferer Kerl erwiesen, der gegen die Tränen anzukämpfen verstand, so versuchte er jetzt, da er sah, daß Tränen und Heulen und Kreischen genau das waren, was seine Pflegeeltern von ihm wünschten, sich nützlich zu machen, und stimmte aus vollem Herzen das kräftigste Gezeter an, das er von sich geben konnte. Er war ein so stillzufriedenes Kind, daß Dr. Larch überrascht war zu erfahren, daß das neue Baby aus St. Cloud’s den Frieden der glücklicherweise kleinen und nahe gelegenen Stadt Three Mile Falls störte. Glücklicherweise war Three Mile Falls klein, denn die Berichte über Homers Geschrei standen wochenlang im Mittelpunkt aller Gerüchte in der Region; und glücklicherweise war Three Mile Falls nah, denn diese Berichte fanden ihren Weg nach St. Cloud’s und zu Schwester Angela und Schwester Edna, die ein Monopol auf dem Gerüchtemarkt all dieser Holz- und Papierstädtchen am Fluß besaßen. Als ihnen zu Ohren kam, wie ihr Homer Wells angeblich Three Mile Falls bis nach Mitternacht wach hielt und wie er die Stadt vor Sonnenaufgang weckte, wußten die Schwestern, daß das nicht sein konnte; sie gingen stracks zu Dr. Larch.
    »Das ist nicht mein Homer!« rief Schwester Angela.
    »Weinen ist nicht seine Natur, Wilbur!« sagte Schwester Edna – jede Gelegenheit nutzend, die sich ihr bot, den so innig geliebten Namen auszusprechen: Wilbur! Es machte Schwester Angela immer sauer auf sie (immer wenn Schwester Edna ihrem Verlangen frönte, Dr. Larch ihr Wilbur ins Gesicht zu sagen).
    »Doktor Larch«, sagte Schwester Angela mit spitzer, übertriebener Höflichkeit, »wenn Homer Wells ganz Three Mile Falls weckt, dann muß die Familie, der Sie ihn überlassen haben, den Jungen mit Zigaretten versengen.«
    Nein, so eine Familie waren sie nicht. Das war eine Lieblingsphantasie Schwester Angelas – sie haßte alle Rauchwaren; allein der Anblick einer Zigarette in einem x-beliebigen Mundwinkel erinnerte sie an jenen frankophonen Indianer, der ihren Vater wegen eines zu bohrenden Brunnens sprechen wollte und dann einer ihrer Katzen die Zigarette ins Gesicht gedrückt und ihr so das Näschen versengt hatte! – die Katze, ein besonders zutrauliches sterilisiertes Weibchen, war dem Indianer auf den Schoß gesprungen. Bandit hatte diese Katze geheißen – sie hatte das klassische Maskengesicht eines Waschbären. Schwester Angela hatte es sich versagt, eine der Waisen nach Bandit zu nennen – sie fand, Bandit sei ein Mädchenname.
    Doch Homers Adoptiveltern aus Three Mile Falls waren keine gewöhnlichen Sadisten. Ein älterer Mann und seine junge Frau lebten da bei seinen erwachsenen Kindern aus erster Ehe; die junge Frau wünschte sich nun selbst ein Kind, aber sie wurde und wurde nicht schwanger. Alle in der Familie fanden, es wäre nett, wenn die Frau ihr eigenes Baby hätte. Was niemand erwähnte, war, daß eine der erwachsenen Töchter aus erster Ehe ein uneheliches Baby bekommen und sich nicht richtig darum gekümmert hatte und daß das Baby nur schrie, Tag und Nacht. Alle hatten sich über das Baby beschwert, das Tag und Nacht schrie, und eines Morgens hatte die erwachsene Tochter einfach ihr Baby genommen und war verschwunden. Sie hinterließ nur diese Nachricht:
     Ich hab’s satt, von euch allen zu hören, dass mein Baby immer schreit. Wenn ich verschwinde, schätze ich, werdet ihr das Geschrei nicht vermissen, und mich auch nicht. 
    Aber das taten sie gerade, alle vermißten sie dieses herrliche krähende Baby und die liebe, schwachsinnige Tochter, die es mitgenommen hatte.
    »Wäre doch nett, wieder ein schreiendes Baby hierzuhaben«, hatte jemand aus der Familie bemerkt, und so gingen sie hin und holten sich ein Baby aus St. Cloud’s.
    Für ein Baby, das nicht schreien wollte, waren sie die falsche Familie. Homers Schweigen war eine so herbe Enttäuschung für sie, daß sie persönlich beleidigt waren und untereinander wetteiferten, wer das

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