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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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unter ihnen. Der Brief lautete: es müsste einen verdammten arzt und eine verdammte schule und auch einen verdammten polizisten und einen verdammten rechtsanwalt geben in st. cloud’s, das von seinen verdammten männern (die sowieso nichts taugen) im stich gelassen und hilflosen frauen und waisen überlassen ist!
    Der Vorsitzende der staatlichen Amtsärztekammer war ein pensionierter Mediziner, für den feststand, daß außer ihm und Präsident Teddy Roosevelt alle Menschen nur Brei im Kopf hatten.
    »Kümmern Sie sich um diesen Gefühlsbrei, Larch?« sagte der Vorsitzende, ohne zu ahnen, daß aus dieser Einladung bald eine staatlich geförderte Einrichtung – für Waisen! – hervorgehen sollte. Eines Tages sollte sie, wenigstens teilweise, Unterstützung aus Bundesmitteln erhalten – und gar jene höchst vagen, wenig verläßlichen Zuwendungen »privater Gönner«.
    Im Jahr 190– jedenfalls, als das zwanzigste Jahrhundert – so jung und verheißungsvoll – aufblühte (sogar im Hinterland von Maine), übernahm Dr. Wilbur Larch die Aufgabe, alle Übel in St. Cloud’s zu heilen. Die Arbeit war für ihn wie geschaffen. Beinah zwanzig Jahre lang sollte Dr. Larch nur einmal St. Cloud’s verlassen – um in den Ersten Weltkrieg zu ziehen, wobei zu bezweifeln ist, daß er dort dringender gebraucht wurde. Welch besseren Mann hätte man sich denken können für die Aufgabe, zu richten, was die Ramses-Papierfabrik angerichtet hatte, als einen Mann mit dem Namen eines der Nadelbäume dieser Welt? In seinem eben begonnenen Tagebuch schrieb Dr. Larch: »Hier in St. Cloud’s ist es höchste Zeit, daß etwas Gutes für die Menschen getan wird. Gibt es zur Läuterung – zur Selbstläuterung, zur Läuterung aller – einen besseren Ort als den, wo das Böse so sichtbar gedeiht, wenn nicht gar triumphiert?«
    1927, als Homer Wells auf die Welt kam und seinen kleinen Penis beschnippeln ließ und einen Namen bekam, hatten Schwester Edna (die verliebt war) und Schwester Angela (die es nicht war) beide einen besonderen Kosenamen für den Gründer von St. Cloud’s, den Arzt, Stadthistoriker, (dekorierten!) Kriegshelden und Leiter der Knabenabteilung.
    »Sankt Larch« nannten sie ihn – und warum nicht?
    Als Wilbur Larch Homer Wells die Erlaubnis gab, in St. Cloud’s zu bleiben, solange der Junge dorthin zu gehören meinte, übte der Arzt nur seine beträchtliche, wohlverdiente Autorität aus. In der Frage der Zugehörigkeit zu St. Cloud’s war Dr. Larch eine Autorität. St. Larch hatte dieses Haus – im zwanzigsten Jahrhundert – gegründet, um sich, wie er sagte, »nützlich« zu machen. Und genau mit diesen Worten ermahnte Dr. Larch Homer Wells, als der Arzt den Wunsch des Jungen, in St. Cloud’s zu bleiben, feierlich gewährte.
    »Tja, Homer«, sagte St. Larch, »ich erwarte von dir, daß du dich nützlich machst.«
     
    Er (Homer Wells) tat nichts anderes, als sich nützlich zu machen. Sein Sinn für Nützlichkeit schien noch älteren Datums zu sein als Dr. Larchs Ermahnungen. Seine ersten Pflegeeltern hatten ihn nach St. Cloud’s zurückgebracht; er war ihnen unheimlich, weil er nie weinte. Die Pflegeeltern klagten, daß sie von der gleichen Stille erwachten, die sie ursprünglich dazu bewogen hatte, ein Kind zu adoptieren. Sie erwachten vor Schreck darüber, daß das Baby sie nicht geweckt hatte, sie eilten ins Kinderzimmer und erwarteten, es tot vorzufinden, aber Homer Wells biß sich zahnlos auf die Lippe, grimassierte auch vielleicht, aber ohne dagegen zu protestieren, daß er ungefüttert und unbeachtet geblieben war. Homers Pflegeeltern argwöhnten immer, er habe stundenlang leidend wach gelegen. Sie fanden das nicht normal.
    Dr. Larch erklärte ihnen, daß die Babys von St. Cloud’s daran gewöhnt seien, unbeachtet in ihren Betten zu liegen. Schwester Angela und Schwester Edna, so lieb und hingebungsvoll sie waren, konnten doch nicht zu jedem einzelnen Baby eilen, kaum daß es anfing zu weinen; Weinen nützte nicht viel in St. Cloud’s (obwohl Dr. Larch in seinem tiefsten Herzen wußte, daß Homer Wells’ Fähigkeit, die Tränen zurückzuhalten, selbst für eine Waise ungewöhnlich war).
    Dr. Larch hatte die Erfahrung gemacht, daß Pflegeeltern, die sich so leicht von ihrem Wunsch nach einem Baby abbringen ließen, nicht die besten Pflegeeltern für eine Waise waren. Homers erste Pflegeeltern waren so schnell überzeugt gewesen, daß sie das Falsche bekommen hätten – ein Zurückgebliebenes, ein

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