Gottes Werk und Teufels Beitrag
wie Homer es noch nie gesehen hatte. Unten hörte er den Rollstuhl durchs Haus poltern, und es erklang wildes, unaufhörliches Kichern von Baby-Rose.
»Sag ihnen, sie sollen das Baby nicht überreizen«, sagte Homer ganz selbstverständlich zu Candy, als wäre sie seine altgediente Krankenschwester und längst daran gewöhnt, seinen Anweisungen aufs genaueste Folge zu leisten. Er ließ sich nicht von dem Lärm (oder von Candy, die ihn zu dämpfen suchte) ablenken; er sah die Cervix sich öffnen, bis sie weit genug war. Er wählte die Kürette von der richtigen Größe. Nach dem ersten Mal, dachte Homer Wells, könnte das leichter gehen. Weil er jetzt wußte, daß er nicht Gott spielen konnte – im schlimmeren Sinn des Wortes; wenn er Rose Rose operieren konnte, wie konnte er sich dann weigern, einer Fremden zu helfen? Wie konnte er überhaupt jemand abweisen? Nur ein Gott trifft eine solche Entscheidung. Ich werde ihnen nur geben, was sie haben wollen, dachte er. Eine Waise oder eine Abtreibung.
Homer Wells atmete langsam und gleichmäßig. Die Festigkeit seiner Hand überraschte ihn. Er blinzelte nicht einmal, als er die Kürette Fühlung nehmen hörte; er wandte die Augen nicht ab von dem Wunder.
In dieser Nacht schlief Candy in dem zweiten Bett in Angels Zimmer – sie wollte in der Nähe sein, falls Rose Rose etwas brauchte, aber Rose Rose schlief wie ein Stein. Die Lücke, die ihr fehlender Zahn hinterlassen hatte, machte ein kleines pfeifendes Geräusch, wenn ihre Lippen sich öffneten; es war ganz und gar nicht störend, und Candy schlief ebenfalls ziemlich fest.
Angel schlief unten und teilte sich das große Bett mit Wally. Sie blieben ziemlich lang wach und redeten. Wally erzählte Angel von der Zeit, als er sich in Candy verliebte; auch wenn Angel diese Geschichte schon einmal gehört hatte, hörte er aufmerksamer hin – jetzt, da er glaubte, in Rose Rose verliebt zu sein. Wally erzählte Angel auch, daß er niemals die dunklen Zwänge jener Welt unterschätzen dürfe, in der sein Vater aufgewachsen sei.
»Es ist die alte Geschichte«, sagte Wally zu Angel. »Du kannst Homer aus Saint Cloud’s herausholen, aber du kannst nicht Saint Cloud’s aus Homer herausholen. Und die Sache mit dem Sich-Verlieben«, sagte Wally zu Angel, »ist die, daß du niemand zwingen kannst. Es ist ganz natürlich, daß du willst, daß jemand, den du liebst, tut, was du willst oder was du gut fändest für ihn; aber du mußt alles kommen lassen, wie’s kommt beim anderen. Du darfst dich bei Leuten, die du liebst, genausowenig einmischen wie bei Leuten, die du nicht einmal kennst. Und das ist schwer«, fügte er hinzu, »denn oft ist dir danach zumute, dich einzumischen – du willst derjenige sein, der die Pläne macht.«
»Es ist schwer, einen andern schützen zu wollen und es nicht zu können«, warf Angel ein.
»Du kannst Leute nicht schützen, Jungchen«, sagte Wally. »Alles, was du tun kannst, ist, sie zu lieben.«
Als er einschlief, spürte Wally die Bewegung des Floßes auf dem Irrawaddy. Einer seiner freundlichen birmesischen Retter erbot sich, ihn zu katheterisieren. Zuerst tauchte er den Bambusstengel in den braunen Fluß, dann wischte er ihn an dem Seidenband ab, mit dem sein Strohhut festgebunden war, dann spuckte er darauf. »Du jetzt wollen piss?« fragte der Birmese Wally.
»Nein, danke«, sagte Wally im Schlaf. »Nicht pissen jetzt«, sagte er laut, worüber Angel lächeln mußte. Dann schlief er ebenfalls ein.
Oben im großen Schlafzimmer lag Homer Wells hellwach. Er hatte sich freiwillig erboten, Baby-Rose über Nacht zu sich zu nehmen. »Weil ich ohnehin die ganze Nacht aufsein werde«, sagte er. Er hatte vergessen, wieviel Vergnügen es ihm machte, sich um ein Baby kümmern zu dürfen. Babys erinnerten Homer an sich selbst; sie brauchten immer irgend etwas mitten in der Nacht. Aber nachdem er Baby-Rose ihr Fläschchen gegeben hatte, schlief das Kind wieder ein und ließ Homer Wells wieder allein; es war trotzdem ein Vergnügen, das kleine Mädchen anzuschauen. Ihr Gesicht in dem Bett neben ihm war nicht größer als seine Hand, und manchmal hob sie ihre Hand, und ihre Finger öffneten und schlossen sich und griffen nach irgend etwas, was sie im Schlaf sah. Die Gegenwart eines anderen atmenden Wesens in dem Zimmer erinnerte Homer Wells an die Schlafsäle in St. Cloud’s, wo er sich nur mit großer Mühe die unvermeidliche Ankündigung vorstellen konnte.
»Freuen wir uns für Doktor
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