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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Chor litauisch sang, aber dann verstand er irgend etwas von einer Schlacht zwischen Gott und Schicksal – eindeutig Deutsch, eindeutig Gott und Schicksal.
    Der Schrei, der durch die Tür drang, übertönte mühelos die Stimmen, die von Gottes Sieg kündeten. Das junge Mädchen sprang von seinem Platz auf, setzte sich wieder, kauerte dort, schrie plötzlich auf; sie drückte ihr Gesicht in den Schoß ihrer Mutter, um ihre Schreie zu ersticken. Larch erkannte, daß sie es gewesen war, die vorhin geweint hatte. Und er begriff, daß sie es sein mußte, die eine Abtreibung brauchte – nicht ihre Mutter. Das Mädchen wirkte nicht älter als zehn oder zwölf.
    »Entschuldigen Sie«, sagte Larch zu der Mutter. »Ich bin Arzt.«
    Er fühlte sich wie ein talentierter Schauspieler, der auf eine einzige blöde Textzeile zurechtgestutzt worden ist – sie war das einzige, was er zu sagen hatte. »Ich bin Arzt.« Was folgte daraus?
    »Sie sind also Arzt«, sagte die Mutter verbittert, aber Larch war schon froh zu hören, daß sie nicht litauisch sprach. »Wie können Sie also helfen?« fragte sie ihn.
    »Im wievielten Monat ist sie?« fragte Larch die Mutter.
    »Vielleicht im dritten«, sagte die Mutter mißtrauisch. »Aber ich habe hier schon bezahlt.«
    »Wie alt ist sie?« fragte Larch.
    Das Mädchen blickte vom Schoß seiner Mutter auf; eine Strähne seines schmutzigblonden Haars hatte sich in seinem Mund verfangen. »Ich bin vierzehn«, sagte es abwehrend.
    »Sie wird vierzehn, nächstes Jahr«, sagte die Mutter.
    Larch stand auf und sagte zu dem Mann mit dem Kassenschlüssel: »Zahlen Sie es ihr zurück. Ich werde dem Mädchen helfen.«
    »Ich dachte, Sie wären gekommen, um Rat zu holen«, sagte der Mann.
    »Zu geben«, sagte Dr. Larch.
    »Warum nicht holen, wenn Sie schon mal hier sind?« sagte der Mann. »Wenn man bezahlt, ist es eine Anzahlung. Eine Anzahlung kriegt man nicht zurück.«
    »Wieviel ist die Anzahlung?« fragte Larch. Der Mann zuckte mit den Schultern; er trommelte mit den Fingern auf die Kasse.
    »Etwa die Hälfte«, sagte er.
    »Eure ganze Macht!« sang der Chor auf deutsch. Wie viele Medizinstudenten konnte Larch gut Deutsch.
    Als die üble Tür aufging, lugte ein altes Paar, wie irgendwelche verwirrten Großeltern, ängstlich in den Warteraum – Bestürzung wie Neugier in ihren Gesichtern, die, wie die Gesichter so mancher alten Paare, einander ähnlich geworden waren. Sie waren klein und gebückt, und hinter ihnen lag eine Frau – reglos wie ein Gemälde – ausgestreckt unter einem Laken, ihre Augen offen, aber blickleer. Die Brechschüssel stand in ihrer Reichweite auf einem Handtuch am Boden.
    »Er sagt, er ist Arzt«, sagte der Mann mit der Kasse, ohne das alte Paar anzusehen. »Er sagt, er ist gekommen, um Ihnen kostenlos ärztlichen Rat zu geben. Er sagt, ich soll diese Damen auszahlen. Er sagt, er wird sich selbst um die junge Dame kümmern.«
    An der Art, wie die alte weißhaarige Frau den Türrahmen zwischen Wartezimmer und »Operationssaal« mit ihrer Gegenwart – oder stärker noch, mit ihrer Kraft, ausgefüllt hatte, erkannte Larch, daß sie hier das Sagen hatte; der weißhaarige alte Mann war ihr Assistent. Die alte Frau hätte gut in eine gemütliche Küche gepaßt, wo sie Plätzchen bakken würde und die Nachbarskinder einladen, jederzeit wiederzukommen.
    »Doktor Larch«, sagte Dr. Larch und verbeugte sich, ein bißchen zu förmlich.
    »Ach ja, Doktor Larch«, sagte die alte Frau ungerührt. »Gekommen, um entweder zu scheißen oder runterzugehen vom Pott?«

    Die Abtreiberin war in der Nachbarschaft »abseits von Harrison« bekannt als Mrs. Santa Claus. Sie war nicht die eigentliche Urheberin dieser Bemerkung – oder dieses Zettels. Den hatte Mrs. Eames’ Tochter selbst geschrieben, bevor sie Mrs. Santa Claus aufsuchte; sie wußte genug über die Gefahren »abseits von Harrison«, um zu wissen, daß sie vielleicht nicht mehr in der Verfassung sein würde, irgend etwas zu schreiben, nachdem Mrs. Santa Claus mit ihr fertig war.
    Larch war auf Mrs. Santa Claus nicht vorbereitet – und auf ihr Verhalten schon gar nicht. Er hatte sich vorgestellt, daß, Auge in Auge mit einer Abtreiberin, er (Dr. Larch) das Heft in die Hand nehmen würde. Er versuchte es auch. Er marschierte in den Operationssaal und hob irgend etwas auf, nur um seine Autorität zu demonstrieren. Was er aufhob, war der Saugnapf mit einem kurzen Schlauch, der zur Fußpumpe führte. Der Napf paßte sauber in seine

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