Gottes Werk und Teufels Beitrag
zeigten direkt aus dem Gesicht, wie bei einem Schwein.
»Manchmal«, sagte Dr. Larch, »wenn eine Frau sehr stark ist und weiß, daß niemand für dieses Baby sorgen wird, falls sie es bekommt, und sie nicht ein Kind auf die Welt bringen und dann versuchen will, ihm ein Zuhause zu finden – kommt sie zu mir, und ich halte es an.«
»Sagen Sie mir noch einmal, wie nennt man das Anhalten?« fragte Homer Wells.
»Eine Abtreibung«, sagte Dr. Larch.
»Richtig«, sagte Homer Wells. »Eine Abtreibung.«
»Und was du in deiner Hand gehalten hast, Homer, war ein abgetriebener Fötus«, sagte Dr. Larch. »Ein Embryo, etwa im dritten oder vierten Monat.«
»Ein abgetriebener Fötus, ein Embryo, etwa im dritten oder vierten Monat«, sagte Homer Wells, der die irritierende Angewohnheit hatte, alle Satzenden Wort für Wort zu wiederholen, als ginge es darum, sie wie David Copperfield laut vorzulesen.
»Und das ist der Grund«, sagte Dr. Larch geduldig, »weshalb manche der Frauen, die hierherkommen, nicht schwanger aussehen … der Embryo, der Fötus, da ist einfach nicht genug, als daß man es sehen könnte.«
»Aber sie alle sind schwanger«, sagte Homer Wells. »Alle die Frauen, die hierherkommen – sie wollen entweder ein Waisenkind bekommen, oder sie wollen es anhalten, richtig?«
»Das ist richtig«, sagte Dr. Larch. »Ich bin nur der Arzt. Ich helfe ihnen zu bekommen, was sie haben wollen. Ein Waisenkind oder eine Abtreibung.«
»Ein Waisenkind oder eine Abtreibung«, sagte Homer Wells.
Schwester Edna neckte Dr. Larch wegen Homer Wells. »Sie haben einen neuen Schatten, Wilbur«, sagte sie.
»Doktor Larch«, sagte Schwester Angela, »Sie haben ein Echo bekommen. Sie haben einen Papagei, der Ihnen überallhin folgt.«
»Gott, oder wer immer, vergebe mir«, schrieb Dr. Larch. »Ich habe einen Jünger gewonnen, ich habe einen dreizehnjährigen Jünger.«
Zu der Zeit, als Homer fünfzehn war, hatte sein Vorlesen aus David Copperfield solchen Erfolg, daß einige der älteren Mädchen der Mädchenabteilung Dr. Larch fragten, ob man Homer überreden könnte, ihnen vorzulesen.
»Nur den älteren Mädchen?« fragte Homer Dr. Larch.
»Gewiß nicht«, sagte Dr. Larch. »Du wirst ihnen allen vorlesen.«
»In der Mädchenabteilung?« fragte Homer.
»Nun, ja«, sagte Dr. Larch. »Es wäre doch peinlich, wenn alle Mädchen in die Knabenabteilung kommen müßten.«
»Richtig«, sagte Homer Wells. »Aber wem lese ich zuerst vor, den Mädchen oder den Jungen?«
»Den Mädchen«, sagte Larch. »Die Mädchen gehen früher zu Bett als die Jungen.«
»Tatsächlich?« fragte Homer.
»Hier schon«, sagte Dr. Larch.
»Und soll ich ihnen denselben Abschnitt vorlesen?« fragte Homer. Da war er gerade auf seiner vierten Reise durch David Copperfield, als Vorleser erst auf der dritten – im sechzehnten Kapitel: »Ich bin ein anderer Junge in mehr als einer Beziehung.«
Dr. Larch aber entschied, daß Waisenmädchen etwas über ein Waisenmädchen hören sollten – im gleichen Sinne, wie er glaubte, daß Waisenjungen etwas über Waisenjungen hören sollten – und so übertrug er Homer die Aufgabe, der Mädchenabteilung aus Jane Eyre vorzulesen.
Es fiel Homer sofort auf, daß die Mädchen aufmerksamer zuhörten als die Jungen; sie waren überhaupt ein besseres Publikum – abgesehen von dem Gekicher, wenn er kam und wenn er wieder ging. Daß sie ein besseres Publikum sein sollten, überraschte Homer, denn er fand Jane Eyre bei weitem nicht so interessant wie David Copperfield; für ihn war Charlotte Brontë bei weitem keine so gute Schriftstellerin wie Charles Dickens. Neben dem kleinen David kam ihm Klein Jane wie eine Heulsuse vor – eine Plärrliese –, aber die Mädchen in der Mädchenabteilung riefen immer wieder: mehr, nur noch einen Abschnitt, wenn Homer alle Abende aufhörte und forteilte, raus aus dem Haus und in die Nacht hinaus, im Galopp zur Knabenabteilung und zu Dickens.
Die Nacht zwischen der Knaben- und Mädchenabteilung roch häufig nach Sägemehl; nur die Nacht bewahrte die Erinnerung an das einstige St. Cloud’s und verströmte den geheimnisvollen alten Sägemühlengeruch und sogar den stinkenden Zigarrendunst der Sägewerker.
»Die Nacht riecht manchmal nach Holz und Zigarren«, sagte Homer Wells zu Dr. Larch, der seine eigene Erinnerung an Zigarren hatte; der Doktor schauderte.
Die Mädchenabteilung roch anders als die Knabenabteilung, fand Homer, trotz der identischen nackten Rohre, der
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