Gottes Werk und Teufels Beitrag
gleichen Krankenhausfarben, der gleichen Schlafsaaldisziplin. Einerseits roch sie süßlicher, andererseits roch sie kränklicher, was für Homer schwer auseinanderzuhalten war.
Zum Schlafen trugen Jungen wie Mädchen dasselbe: Unterhemden und Unterhosen, und immer wenn Homer in der Mädchenabteilung eintraf, saßen oder lagen die Mädchen bereits in ihren Betten, die Decke über die Beine gebreitet. Die wenigen mit sichtbarem Busen saßen meistens mit über der Brust verschränkten Armen, um ihre Entwicklung zu verbergen. Alle, bis auf eine – die Größte, die Älteste; sie war sowohl größer wie auch älter als Homer Wells. Sie hatte Homer über die Ziellinie eines besonders berühmten Dreibein-Wettlaufs getragen. Es war die, die Melony hieß und eigentlich Melody heißen sollte; die, deren Busen Homer versehentlich berührt und die ihn in seinen Pimmel gezwickt hatte.
Melony saß beim Vorlesen im Indianersitz – auf der Bettdecke, in zu engen Unterhosen, die Hände in die Hüften gestemmt, die Ellbogen auswärts gekehrt wie Flügel und den beträchtlichen Busen vorgereckt; Homer sah auch ein Stück von ihrem dicken Bauch. Und jeden Abend fragte die Leiterin der Mädchenabteilung, Mrs. Grogan, erneut: »Wirst du dich nicht erkälten ohne deine Bettdecke, Melony?«
»Nööö«, antwortete Melony jedesmal, worauf Mrs. Grogan so tief seufzte, daß es schon beinah wie ein Stöhnen klang. Diesem Stöhnen verdankte sie auch ihren Spitznamen: Mrs. Groan – Frau Stöhn. Ihre Autorität beruhte auf ihrer Fähigkeit, die Mädchen glauben zu machen, daß sie ihr Schmerz zufügten, indem sie sich selbst oder einander Schmerz zufügten.
»Oh, das tut mir weh, so etwas zu sehen«, pflegte sie ihnen zu sagen, wenn sie sich prügelten, Haare rauften, Augäpfel quetschten, einander ins Gesicht bissen. »Das tut mir wirklich weh.« Ihre Methode hatte Erfolg bei jenen Mädchen, die sie liebten. Bei Melony hatte sie keinen Erfolg. Mrs. Grogan mochte Melony besonders gern, aber sie spürte, daß sie Melony so nicht für sich gewinnen konnte.
»Oh, es tut mir weh, Melony, zu sehen, wie du dich erkältest – ohne deine Bettdecke«, pflegte Mrs. Grogan zu sagen, »nur halb angezogen. Das tut mir wirklich weh.«
Aber Melony blieb, wo sie war, die Augen fest auf Homer Wells geheftet. Sie war größer als Mrs. Grogan, sie war zu groß für die Mädchenabteilung. Sie war zu groß, um adoptiert zu werden. Sie ist zu groß für ein Mädchen, dachte Homer Wells. Größer als Schwester Edna, größer als Schwester Angela – beinah so groß wie Dr. Larch –, sie war fett, aber ihr Fett wirkte fest. Und obwohl er seit mehreren Jahren nicht bei dem Dreibein-Wettlauf mitgemacht hatte, wußte er auch, daß Melony stark war. Homer hatte beschlossen, nicht mitzumachen, solange er mit Melony zusammengestellt würde – und er würde zwangsläufig mit ihr zusammengestellt werden, solange er der älteste Junge und sie das älteste Mädchen war.
Wenn er aus Jane Eyre vorlas, durfte Homer Melony nicht anschauen, weil er sonst unweigerlich daran denken mußte, wie es war, als sein Bein an ihres gefesselt gewesen war. Er spürte, daß sie ihm übelnahm, daß er dem alljährlichen Wettrennen fernblieb. Er fürchtete auch, daß sie spüren könnte, wie sehr ihm ihre Massigkeit gefiel – wie sehr Fett einem Waisenkind als großes Glück erschien.
Die rührenden Passagen aus Jane Eyre (allzu rührend für Homer Wells) trieben den Mädchen der Mädchenabteilung Tränen in die Augen und entlockten Mrs. Grogan das allerkläglichste Seufzen und Stöhnen, aus Melony aber preßten sie das allergequälteste Keuchen hervor – als ob Rührendes in ihr eine kaum zu bezähmende Wut entfesselte.
Der Schluß von Kapitel vier entfesselte in Melony eine unbezähmbare Wut.
»Der Nachmittag glitt in Frieden und Harmonie dahin«, las Homer Wells ihnen vor; als er Melony die Worte »Frieden« und »Harmonie« zischen hörte, las er tapfer weiter. »Und am Abend erzählte mir Bessie ein paar von ihren fesselndsten Geschichten und sang mir einige ihrer süßesten Lieder«, fuhr Homer fort, froh, daß es nur noch einen weiteren Satz zu überstehen galt; er sah Melonys breite Brust wogen. »›Sogar für mich (zwitscherte die kleine Jane Eyre) hatte das Leben seine Sonnenstrahlen.‹«
»Sonnenstrahlen! Wer’s glaubt!« höhnte Melony. »Soll sie mal hierherkommen. Soll sie mir mal die Sonnenstrahlen zeigen!«
»Oh, wie tut es mir weh, Melony – dich so etwas
Weitere Kostenlose Bücher