Gottes Werk und Teufels Beitrag
könnte – die sogenannten Produkte der Empfängnis, ein menschlicher Fötus, oder ein erkennbarer Teil davon.
Und so kam es, daß Homer Wells (mit dreizehn, der Unglückszahl) entdeckte, daß die Quicken wie die Nicht-Quicken in St. Cloud’s zur Welt gebracht wurden. Eines Tages, auf dem Rückweg vom Verbrennungsofen, sah er einen Embryo am Boden: er war aus dem Abfalleimer gefallen, den er schleppte, aber als er ihn sah, nahm er an, er sei vom Himmel gefallen. Er beugte sich darüber, dann spähte er nach dem Nest, aus dem es gefallen sein mochte – nur gab es hier keine Bäume. Homer Wells wußte, daß Vögel ihre Eier nicht im Flug legten – oder daß ein Ei, während es fiel, nicht seine Schale verlieren konnte.
Dann stellte er sich vor, irgendein Tier habe eine Fehlgeburt gehabt – in einem Waisenhaus, in der Umgebung eines Spitals, hörte man solch ein Wort –, aber welches Tier? Es wog weniger als ein Pfund, es war vielleicht acht Zoll lang, und dieser Schatten auf seinem beinah durchsichtigen Kopf war die erste Stufe von Haaren, nicht von Federn; und das hier waren beinah schon Augenbrauen in seinem eingedrückten Gesicht; es hatte sogar Wimpern. Und waren das Brustwarzen – diese kleinen blaßrosa Punkte, die da hervortraten auf dieser Brust von der Größe eines Daumens? Und diese Scheibchen an den Fingerspitzen und Zehen – das waren Nägel! Das ganze Ding in einer Hand haltend, rannte Homer damit geradewegs zu Dr. Larch. Larch saß in Schwester Angelas Büro an der Schreibmaschine; er schrieb einen Brief an das Neuengland-Heim für kleine Vagabunden.
»Ich habe etwas gefunden«, sagte Homer Wells. Er streckte die Hand aus, und Larch nahm ihm den Embryo ab und legte ihn auf einen sauberen weißen Bogen Schreibpapier auf Schwester Angelas Schreibtisch. Er war etwa im dritten Monat – höchstens im vierten. Noch nicht quick, wie Dr. Larch wußte, aber beinah. »Was ist das?« fragte Homer Wells.
»Gottes Werk«, sagte Wilbur Larch, dieser Heilige von St. Cloud’s, denn eben hatte er erkannt, daß auch dies die Arbeit Gottes war: Homer Wells zu unterweisen, ihm alles zu sagen, dafür zu sorgen, daß er Richtig von Falsch zu unterscheiden lernte. Es war eine Menge Arbeit, die Arbeit des Herrn, aber wenn man vermessen genug war, sie auf sich zu nehmen, dann mußte man sie gründlich tun.
3
Prinzen von Maine, Könige Neuenglands »Hier in St. Cloud’s«, schrieb Dr. Larch, »behandeln wir die Waisen wie Mitglieder königlicher Familien.«
In der Knabenabteilung beseelte dieses Gefühl seinen Gutenachtwunsch – seinen Abendsegen, den er laut über die Bettenreihen hinweg in die Dunkelheit hineinrief. Dr. Larchs Segenswunsch folgte auf das Vorlesen der Gutenachtgeschichte, das – nach dem unglücklichen Unfall der Winkles – Homer Wells’ Aufgabe geworden war. Dr. Larch wollte Homer mehr Selbstvertrauen geben. Als Homer Dr. Larch erzählte, wie sehr es ihm gefallen habe, den Winkles in ihrem Safarizelt vorzulesen – und wie gut er es gemacht zu haben glaubte, auch wenn die Winkles eingeschlafen waren –, beschloß der Doktor, die Begabung des Jungen zu fördern.
193–, beinah unmittelbar nachdem er seinen ersten Fötus gesehen hatte, begann Homer Wells David Copperfield in der Knabenabteilung vorzulesen, genau zwanzig Minuten am Stück, nicht mehr, nicht weniger; es kam ihm so vor, als brauche er mehr Zeit zum Vorlesen als Dickens zum Schreiben. Zuerst las er stockend – und unter dem Gespött der wenigen annähernd gleichaltrigen Jungen (älter war keiner) –, dann immer besser. Jede Nacht murmelte er laut für sich jenen Anfangsabschnitt des Buches. Er wirkte auf ihn wie eine Litanei – die ihn ab und an auch friedlich einschlafen ließ.
Ob ich mich in diesem Buche zum Helden meiner
eignen Leidensgeschichte entwickeln werde
oder ob jemand anders diese Stelle ausfüllen soll,
wird sich zeigen.
»Ob ich mich in diesem Buche zum Helden meiner eignen Leidensgeschichte entwickeln werde«, flüsterte Homer vor sich hin. Er erinnerte sich, wie trocken seine Augen und seine Nase damals im Heizungskeller bei den Drapers in Waterville gewesen waren; er erinnerte sich an die Gischt des Wassers, das die Winkles fortgerissen hatte; er erinnerte sich an diesen kühlen, feuchten, in sich zusammengekrümmten Neubeginn, der tot in seiner Hand gelegen hatte. (Dieses Ding, das er in der Hand gehalten hatte, konnte kein Held gewesen sein.)
Und nach dem »Licht aus«, und nachdem Schwester Edna
Weitere Kostenlose Bücher