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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Mütter waren oft wach, wenn er bei ihnen vorbeischaute. Manchmal brachte er der einen oder anderen ein Glas Wasser.
    Die Frauen, die für eine Abtreibung nach St. Cloud’s kamen, blieben selten über Nacht. Sie erholten sich schneller als die Frauen, die entbunden hatten, und Dr. Larch entdeckte, daß es für sie am bequemsten war, wenn sie morgens kurz vor Tagesanbruch ankamen und am frühen Abend kurz nach Einbruch der Dunkelheit wieder gingen. Tagsüber wurden die Geräusche der Babys vom Krach der älteren Waisen überdeckt, und die Gespräche zwischen den Müttern und den Schwestern verwischten alles. Was den Frauen, die abgetrieben hatten, am meisten zu schaffen machte, war das Wimmern der Neugeborenen. Nachts machten – abgesehen von John Wilburs Pipi und Fuzzy Stones Husten – nur die erwachenden Babys und die Eulen Geräusche in St. Cloud’s.
    Es war eine ganz einfache Beobachtung: Für Frauen, die gerade eine Abtreibung hinter sich hatten, war es alles andere als tröstlich, das Geschrei und Gebrabbel der Neugeborenen zu hören. Entbindungen ließen sich nicht auf die Stunde genau planen, aber Larch versuchte, die Abtreibungen auf den frühen Morgen zu legen, wonach sich die Frauen den ganzen Tag erholen und am Abend bereits über alle Berge sein konnten. Frauen, die von weit her angereist kamen, empfahl Larch, schon am Vorabend ihrer Abtreibung in St. Cloud’s einzutreffen (er gab ihnen dann ein starkes Schlafmittel); so hatten sie den ganzen nächsten Tag, um sich zu erholen.
    Wenn eine dieser Frauen über Nacht blieb, dann nie in dem Zimmer bei den werdenden oder bereits entbundenen Müttern. Auf seiner Schlaflosenrunde durch St. Cloud’s sah Homer, daß der Gesichtsausdruck dieser nächtlichen Besucherinnen im Schlaf nicht mehr und nicht weniger beunruhigt war als der Gesichtsausdruck der Frauen, die Babys bekommen sollten (oder bereits bekommen hatten). Homer Wells stellte sich dann oft seine eigene Mutter zwischen den Gesichtern der schlafenden und der wachenden Frauen vor. Wohin wollte sie zurück – wenn die Wehenschmerzen erst abgeklungen waren? Hatte sie überhaupt ein Ziel? Und was mochte, während sie hier lag, sein Vater denken – falls er überhaupt wußte, daß er Vater war? Falls sie überhaupt wußte, wer er war.
    Diese Frauen stellten ihm immer dieselben Fragen:
    »Bist du in der Ausbildung?«
    »Wirst du Arzt werden, wenn du erwachsen bist?«
    »Bist du eines der Waisenkinder?«
    »Wie alt bist du? Hat dich noch niemand adoptiert?«
    »Hat man dich zurückgeschickt?«
    »Gefällt es dir hier?«
    Und er antwortete dann:
    »Vielleicht werde ich Arzt.«
    »Natürlich ist Doktor Larch ein guter Lehrer.«
    »Ganz richtig: eines der Waisenkinder.«
    »Bald sechzehn. Ich hab versucht, mich adoptieren zu lassen, aber es war nichts für mich.«
    »Ich wollte zurückkommen.«
    »Natürlich gefällt es mir hier!«
    Eine der Frauen – sie war hochschwanger und ihr Bauch riesig unter einem straffgespannten Laken – fragte ihn: »Du meinst, falls jemand dich adoptieren wollte, würdest du nicht gehen?«
    »Ich würde nicht gehen«, sagte Homer Wells. »Richtig.«
    »Du würdest es nicht einmal in Betracht ziehen?« fragte die Frau. Er konnte sie fast nicht ansehen – sie sah aus, als könnte sie jeden Moment platzen.
    »Na ja, ich würde wahrscheinlich darüber nachdenken«, sagte Homer Wells. »Aber ich würde wahrscheinlich beschließen, zu bleiben, solange ich hier helfen kann – mich nützlich machen, verstehen Sie?«
    Die schwangere Frau fing an zu weinen. »Nützlich machen«, sagte sie, als wäre ihr beim einmaligen Zuhören Homers Manie, die Satzenden zu wiederholen, bereits in Fleisch und Blut übergegangen. Sie schob die Decke hinunter, zog das Spitalhemd hoch; Schwester Edna hatte sie bereits rasiert. Sie legte ihre Hände auf ihren großen Bauch. »Schau dir das an«, flüsterte sie. »Du möchtest dich nützlich machen?«
    »Richtig«, sagte Homer Wells und hielt den Atem an.
    »Niemand hat mir je die Hand aufgelegt, um das Baby zu fühlen. Niemand wollte je sein Ohr darauf legen und lauschen«, sagte die Frau. »Man sollte kein Baby bekommen, wenn es niemanden gibt, der fühlen möchte, wie es stößt, oder lauschen, wie es sich regt.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Homer Wells.
    »Möchtest du es nicht berühren oder dein Ohr daran legen?« fragte die Frau ihn.
    »Okay«, sagte Homer Wells und legte seine Hand auf den heißen, harten Bauch der Frau.
    »Leg auch dein Ohr

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