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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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oder Schwester Angela gefragt hatte, ob jemand ein letztes Glas Wasser brauchte oder einen letzten Gang aufs Töpfchen – wenn die Lichtpunkte von den eben gelöschten Lampen noch in der Dunkelheit glimmten und die Gedanken einer jeden Waise entweder schliefen oder träumten oder bei David Copperfields Abenteuern verweilten –, dann pflegte Dr. Larch die Tür aufzumachen, draußen vom Korridor mit seinen nackten Rohren und seinem Krankenhausanstrich.
    »Gute Nacht!« pflegte er zu rufen. »Gute Nacht – ihr Prinzen von Maine, ihr Könige Neuenglands!« (Das Ding, das Homer in der Hand gehalten hatte, war kein Prinz – es hatte nicht lange genug gelebt, um König zu werden.)
    Dann – Bum! – schloß sich die Tür, und die Waisen blieben in neuer Dunkelheit zurück. Welche Bilder von Königsgestalten auch immer sie heraufbeschwören mochten, blieb ihnen selbst überlassen. Welche Prinzen und Könige konnten sie schon gesehen haben? Welche Zukunft konnten sie sich womöglich erträumen? Welche königlichen Pflegefamilien würden sie im Traum willkommen heißen? Welche Prinzessinnen würden sie lieben? Welche Königinnen würden sie heiraten? Und wann würden sie dem Dunkel entfliehen können, das ihnen geblieben war, nachdem Larch die Tür geschlossen hatte, nachdem sie das sich entfernende Knirschen von Schwester Ednas oder Schwester Angelas Schuhen nicht länger hören konnten? (Das Ding, das er in seiner Hand gehalten hatte, hätte die Schuhe nicht knirschen hören können, so winzig und runzlig waren seine Ohren!)
    Für Homer Wells war es anders. Er stellte sich nicht vor, St. Cloud’s zu verlassen. Die Prinzen von Maine und die Könige Neuenglands, die er sich vorstellte, regierten am Hof von St. Cloud’s und reisten nirgendwohin; sie fuhren nicht auf See und bekamen das Meer gar nie zu sehen. Aber irgendwie vermochte Dr. Larchs Segenswunsch sogar Homer Wells zu stärken und ihm Hoffnung zu geben. Diese Prinzen von Maine, diese Könige Neuenglands, diese Waisen von St. Cloud’s – wer immer sie sein mochten, sie waren die Helden ihres eigenen Lebens. So viel sah Homer in der Dunkelheit; so viel gab ihm Dr. Larch, wie ein Vater.
    Prinzliches, sogar königliches Verhalten war selbst in St. Cloud’s möglich, schien Dr. Larch sagen zu wollen.
    Homer Wells träumte, er sei ein Prinz. Er hob die Augen empor zu seinem König: er beobachtete St. Larch auf Schritt und Tritt. Es war die verwunderliche Kälte des Dings, die Homer nicht vergessen konnte.
    »Weil es tot war, richtig?« fragte er Dr. Larch. »Das ist der Grund, warum es kalt war, richtig?«
    »Ja«, sagte Dr. Larch. »In gewisser Hinsicht war es niemals lebendig.«
    »Niemals lebendig«, sagte Homer Wells.
    »Manchmal«, sagte Dr. Larch, »bringt es eine Frau einfach nicht über sich, eine Schwangerschaft zu unterbrechen, sie spürt, daß das Baby bereits ein Baby ist – vom ersten Körnchen an –, und sie muß es bekommen – auch wenn sie es nicht haben will und sie nicht für es sorgen kann –, und deshalb kommt sie zu uns und bekommt ihr Baby hier. Sie läßt es hier bei uns zurück. Sie traut uns zu, daß wir ihm ein Zuhause finden.«
    »Sie macht ein Waisenkind«, sagte Homer Wells. »Jemand muß es adoptieren.«
    »Meistens adoptiert es jemand«, sagte Dr. Larch.
    »Meistens«, sagte Homer Wells. »Vielleicht.«
    »Am Ende«, sagte Dr. Larch.
    »Und manchmal«, sagte Homer Wells, »hält die Frau es nicht durch, richtig? Sie hält es nicht durch, das Baby zu bekommen.«
    »Manchmal«, sagte Dr. Larch, »weiß die Frau schon sehr früh in ihrer Schwangerschaft, daß dieses Kind unerwünscht ist.«
    »Ein Waisenkind, von Anfang an«, sagte Homer Wells.
    »So könnte man sagen«, sagte Wilbur Larch.
    »Also tötet sie es«, sagte Homer Wells.
    »Könnte man sagen«, sagte Wilbur Larch. »Man könnte auch sagen, daß sie es anhält, bevor es ein Kind wird – sie hält es einfach an. In den ersten drei oder vier Monaten hat der Fötus – oder der Embryo (ich sage also nicht: ›das Kind‹) – noch kein eigenes Leben. Es lebt von der Mutter. Es hat sich noch nicht entwickelt.«
    »Es ist nur ein bißchen entwickelt«, sagte Homer Wells.
    »Es hat sich noch nicht von allein bewegt«, sagte Dr. Larch.
    »Es hat keine richtige Nase«, sagte Homer Wells, der sich daran erinnerte, daß an dem Ding, das er in der Hand gehalten hatte, weder die Nasenlöcher noch die Nase selbst in ihrer Abwärtsneigung entwickelt gewesen waren; die Nasenlöcher

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