Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
alt sie war. Bis ins Alter von acht oder neun sprach sie kein Wort, und Larch fürchtete schon, sie sei zurückgeblieben; doch das war nicht das Problem.
    »Melony war immer schon wütend«, versuchte Dr. Larch Homer zu erklären. »Wir wissen nichts über ihre Herkunft oder ihre ersten Jahre, und vielleicht weiß sie selber nicht, welches die Ursachen ihrer Wut sind.« Larch überlegte hin und her, ob er Homer sagen sollte, daß Melony noch öfter als er adoptiert und zurückgeschickt worden war. »Melony hatte ein paar unglückliche Erfahrungen mit Pflegefamilien«, sagte Dr. Larch behutsam. »Falls sich eine Gelegenheit ergibt, sie darauf anzusprechen – sofern sie überhaupt darüber sprechen will –, wäre es vielleicht ein willkommenes Ventil für einen Teil ihrer Wut.«
    »Sie nach ihren Erlebnissen fragen«, sagte Homer Wells kopfschüttelnd. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich habe noch nicht einmal versucht, mit ihr zu sprechen.«
    Schon bereute Dr. Larch seinen Vorstoß. Vielleicht würde sich Melony an ihre erste Pflegefamilie erinnern und Homer von ihnen erzählen; sie hatten sie zurückgeschickt, weil sie sich angeblich mit dem Hund der Familie um einen Ball gezankt und das Tier gebissen hatte. Es war nicht nur dieser eine Spektakel, der die Familie aufbrachte; sie behaupteten, Melony habe den Hund wiederholt gebissen. Noch wochenlang nach dem Zwischenfall schlich sie sich an das Tier an und überrumpelte es beim Fressen oder im Schlaf. Die Familie beschuldigte Melony, den Hund in den Wahnsinn getrieben zu haben.
    Melony war ihrer zweiten und dritten Familie davongelaufen, angeblich weil die Männer in den Familien, entweder Väter oder Brüder, ein sexuelles Interesse für sie entwickelt hätten. Die vierte Familie behauptete, daß Melony ein sexuelles Interesse für ein jüngeres Mädchen entwickelt habe. In Fall Nummer fünf ging die Ehe schließlich wegen Melonys Verhältnis mit dem Ehemann auseinander – die Frau behauptete, ihr Ehemann habe Melony verführt, während dieser behauptete, daß Melony ihn verführt (er sagte »angegriffen«) habe. Melonys eigener Standpunkt war völlig unzweideutig. »Mich verführt keiner!« sagte sie stolz zu Mrs. Grogan. In Fall Nummer sechs war der Ehemann kurz nach Melonys Ankunft an einem Herzschlag gestorben, und die Frau hatte Melony nach St. Cloud’s zurückgeschickt, weil sie sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlte, Melony allein zu erziehen. (Melonys einzige Bemerkung gegenüber Mrs. Grogan war: »Kannste wetten, daß sie mir nicht gewachsen war!«)
    Und all das, hielt sich Dr. Larch beunruhigt vor, sollte Homer von Melony aus erster Hand erfahren. Er fürchtete, daß er Homer Wells zu seinem Lehrling gemacht hatte – zum Helfer im knirschenden Betrieb von St. Cloud’s –, während er gleichzeitig der Versuchung nicht widerstehen konnte, den Jungen vor manchen der härteren Wahrheiten abzuschirmen.
    Es war natürlich typisch für Schwester Angela, daß sie Homer Wells »engelhaft« nannte, und typisch für Schwester Edna, von der »Vollkommenheit« des Jungen zu reden, von seiner »Unschuld«, aber Dr. Larch sorgte sich wegen Homers Kontakten mit den geschädigten Frauen, die in St. Cloud’s Hilfe suchten – den scheidenden Müttern, in deren Charakter und Geschichte der Junge irgendeinen Hinweis auf seine eigene Mutter suchen mochte. Und wie wirkten wohl die verstörten Frauen auf ihn, die nach der Ausschabung fortgingen und (außer den Produkten der Empfängnis) niemanden zurückließen?
    Homer Wells hatte ein gutes, offenes Gesicht; sein Gesicht konnte nichts verbergen – jedes Gefühl und jeder Gedanke lagen klar zutage, wie ein frei daliegender See jedes Wetter widerspiegelt. Er hatte eine Hand, die man gut festhalten, und Augen, denen man gut beichten konnte; Dr. Larch machten bestimmte Details aus den Lebensgeschichten Sorgen – nicht einfach die Scheußlichkeiten, denen Homer Wells ausgesetzt sein würde, sondern auch die Fülle der Rationalisierungen, die er zu hören bekam.
    Und jetzt hatte Melony, das unbestrittene Schwergewicht der Mädchenabteilung, den Jungen mit ihrer Wut verstört – mit etwas, was, wie Dr. Larch argwöhnte, nur die Spitze des Eisberges ihrer Macht war; sie hielt ein ebenso unerschöpfliches wie unersprießliches Arsenal an Erziehungsmöglichkeiten für Homer Wells parat.
    Melony begann mit ihrem Beitrag zu Homers Erziehung gleich am nächsten Abend, als er in der Mädchenabteilung vorlas. Homer war früh

Weitere Kostenlose Bücher