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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Knabenabteilung hinweg, nach der beleuchteten Hügelflanke über St. Cloud’s, und da sah er die hohen Schatten von Wilbur Larch und Homer Wells – der eine ragte bis an den dunklen Waldrand, der andere geradewegs in den Himmel. Die beiden Riesengestalten flatterten mit ihren riesigen, hügelumspannenden Armen; der Wind trug dem Bahnhofsvorsteher das Wort »Zauberer« zu! Und jetzt wußte er, daß er die ganze Nacht wandern, sogar rennen konnte – aber nicht entfliehen, diesmal nicht. Der letzte Gedanke des Bahnhofsvorstehers war, daß für ihn und alle Welt die letzte Stunde geschlagen hatte. 
     
    Am nächsten Morgen wühlte der Seewind St. Cloud’s immer noch auf. Sogar Melony bemerkte ihn; ihre sonstige Verdrießlichkeit war vorübergehend wie weggeblasen – sie wachte nur mühsam auf, obwohl sie eine schlaflose Nacht hinter sich hatte. Ihr war, als wäre ein Tier die ganze Nacht auf dem Gelände der Mädchenabteilung umhergeschlichen und hätte, wahrscheinlich im Müll, gestöbert. Und sie hatte die zwei Frauen beobachtet, die noch vor dem Morgengrauen vom Bahnhof den Hügel heraufgeschritten waren. Die Frauen sprachen nicht miteinander – sie kannten sich wahrscheinlich nicht; sicherlich hatte die eine die Umstände der anderen erraten. Die Frauen schritten mit gesenktem Kopf dahin. Sie waren beide zu warm angezogen für den Frühling; der Wind drückte die unförmigen Wintermäntel gegen die Körper der Frauen. Sie sahen nicht schwanger aus, stellte Melony fest; sie nahm sich vor, an ihrem Lieblingsfenster auf dem Posten zu sein, wenn die Frauen den Hügel hinunter zum Abendzug gingen. Schließlich gaben sie doch etwas fort, überlegte Melony, und entsprechend leicht sollten ihre Schritte auf dem Rückweg sein, vor allem, da es bergab ging. Aber jedesmal schritten die Frauen schwerer den Hügel hinab, als sie ihn heraufgeschritten waren – als sei ihnen etwas aufgebürdet worden, was sie nun mit sich fortschleppten. Ihr Gang war das genaue Gegenteil dessen, was man bei einer Frau erwartete, die wahrhaft ausund saubergekratzt worden war.
    Vielleicht nicht ganz so sauber, dachte Melony. Homer hatte ihr zwar nichts erzählt – doch gab es einen Kummer, den Melony nicht kannte? Wo immer ein Unrecht glimmte, ein Fehler aufleuchtete oder Verlust, verlorene Hoffnung oder grausame Entscheidungen drohten, die immer möglich waren – Melonys geschultes Auge sah und erkannte es.
    Sie hatte noch keinen Fuß nach draußen gesetzt und doch eine Veränderung gewittert. Sie konnte die Leiche des Bahnhofsvorstehers nicht sehen; er war neben dem selten benutzten Lieferanteneingang zur Knabenabteilung ins Unkraut gefallen; das Spital hatte einen separaten Lieferanteneingang.
    Auch Dr. Larch hätte aus seinem Fenster-zur-Welt, aus Schwester Angelas Büro, das Unkraut nicht sehen können, wo der Bahnhofsvorsteher lag und langsam erstarrte. An diesem Vormittag hatte Dr. Larch andere Sorgen als die abgeschiedene Seele des Bahnhofsvorstehers. Er hatte schon früher schlaflose Nächte gehabt; Seewind war selten, trotzdem hatte er ihn gespürt. In der Mädchenabteilung hatte es eine Rauferei gegeben, die ein paar Stiche an der Lippe eines Mädchens und an der Augenbraue eines anderen Mädchens erfordert hatte, doch Wilbur Larch machte sich wegen dieser Mädchen keine Sorgen. Homer Wells hatte an der Lippe ausgezeichnete Arbeit geleistet; Larch hatte sich um die Augenbraue gekümmert, bei der eher die Gefahr einer bleibenden Narbe bestand.
    Und die zwei Frauen, die auf ihre Abtreibung warteten, waren beide in einem frühen Stadium ihrer Schwangerschaft und wirkten – laut Schwester Edna – robust und vernünftig. Bei einer fast fröhlichen Frau aus Damariscotta hatten eben die ersten Wehen eingesetzt, und alles verlief normal; sie hatte schon einmal entbunden, völlig routinemäßig, und darum erwartete Larch bei ihr keine Komplikationen. Homer sollte die Frau aus Damariscotta entbinden, weil es problemlos schien und weil die Frau, laut Schwester Angela, Homer besonders ins Herz geschlossen hatte; jedesmal, wenn er in ihre Nähe kam, hatte sie wie ein Wasserfall auf ihn eingeschwatzt.
    Was also ist verkehrt? dachte Wilbur Larch. Oder, wo nicht verkehrt, so doch anders?
    Was machte es, wenn die Post sich verspätete und der Speisesaal meldete, daß keine Milch geliefert worden war? Larch konnte nicht wissen (und es hätte ihn auch nicht gekümmert), daß auf dem Bahnhof alles drunter und drüber ging, weil der

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