Gottes Werk und Teufels Beitrag
Gedanke verflog rasch, wie die Gedanken bei Vernon Lynch zumeist verflogen. Er betrachtete die Schlammspuren, die Olives Transporter hinterlassen hatte, und sagte einen waschechten Vernon-Lynch-Satz. »Leck mich am Arsch, du reiche Schlampe!« Dann putzte er die Düse der Spritzpistole weiter.
An diesem Abend saß Wally mit Candy auf Ray Kendalls Dock und erzählte ihr das wenige, was er über St. Cloud’s wußte. Er wußte zum Beispiel nicht, daß es da einen Apostroph gab. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich in Harvard zu bewerben; seine Noten waren noch nicht einmal gut genug für Bowdoin; an der University of Maine, wo er halbherzig im Hauptfach Botanik studierte, hatte er keine Grammatik gelernt.
»Ich wußte nur, daß es ein Waisenhaus ist«, sagte Candy.
Ihnen beiden war klar, daß sie für ihr Ausbleiben über Nacht keine gute Ausrede erfinden konnten, also lieh sich Wally für einen Tag Seniors Cadillac aus; sie würden sehr früh morgens aufbrechen müssen und kämen am gleichen Abend noch zurück. Wally erzählte Senior, daß es die beste Jahreszeit sei, um die Küste zu erkunden und vielleicht ein Stückchen ins Hinterland zu fahren; an der Küste würde es bald wimmeln von Touristen, je näher der Sommer kam, und das Hinterland würde zu heiß werden für eine angenehme Fahrt.
»Ich weiß, es ist ein Arbeitstag«, sagte Wally zu Olive. »Was macht schon ein Tag, Mom? Ich möchte nur mit Candy eine kleine Spritztour machen – nur ein freier Tag.«
Olive fragte sich, ob aus Wally jemals etwas werden würde.
Ray Kendall hatte seine eigene Arbeit, um die er sich kümmern mußte. Er wußte, Candy würde glücklich sein, mit Wally eine Spazierfahrt zu machen. Wally war ein guter Fahrer – ein bißchen schnell –, und der Cadillac, das wußte Ray besser als jeder andere, war ein sicheres Auto. Schließlich brachte er ihn immer in Ordnung.
Am Abend vor ihrem Ausflug gingen Candy und Wally früh ins Bett, aber beide lagen sie die ganze Nacht wach. Wie die meisten wahrhaft liebenden jungen Paare machte jeder sich Sorgen über die Auswirkung dieser Erfahrung auf den anderen. Wally befürchtete, daß eine Abtreibung Candy unglücklich machen könnte oder auch befangen beim Sex. Und Candy hatte Angst, daß Wallys Gefühle für sie hinterher nicht mehr dieselben sein würden.
In jener Nacht schliefen auch Wilbur Larch und Homer Wells nicht. Larch saß in Schwester Angelas Büro an der Schreibmaschine; durch das Fenster sah er Homer Wells draußen mit einer Öllampe in der Dunkelheit umhergehen. Was ist jetzt wieder los, fragte sich Larch und ging nachsehen, was Homer machte.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagte Homer zu Larch.
»Was ist’s denn diesmal?« fragte Larch Homer.
»Vielleicht nur eine Eule«, sagte Homer Wells. Die Öllampe strahlte nicht sehr weit in die Dunkelheit, und es wehte ein für St. Cloud’s ungewöhnlich starker Wind. Als der Wind die Lampe ausblies, sahen der Doktor und sein Assistent, daß ein Lichtschein aus dem Fenster von Schwester Angelas Büro fiel und sie von hinten anleuchtete. Es war das einzige Licht meilenweit im Umkreis, und es machte ihre Schatten riesengroß. Larchs Schatten reichte über das öde, unbepflanzte Grundstück, die kahle Hügelflanke hinauf bis zu dem schwarzen Wald. Homer Wells’ Schatten streifte den dunklen Himmel. Erst jetzt bemerkten die beiden Männer, daß Homer größer geworden war als Dr. Larch.
»Verdammt will ich sein«, murmelte Larch und breitete die Arme aus, so daß sein Schatten wie ein Magier aussah, der etwas hervorzaubern will. Larch flatterte mit den Armen wie eine große Fledermaus. »Sieh!« sagte er zu Homer. »Ich bin ein Zauberer!«
Auch Homer Wells, der Zauberlehrling, flatterte mit den Armen.
Der Wind war sehr stark und frisch. Keine feuchte Schwere lag in der Luft über St. Cloud’s; die Sterne leuchteten hell und kalt; die Erinnerung an Zigarrenrauch und Sägemehl fehlte in dieser neuen Luft.
»Fühlen Sie diesen Wind«, sagte Homer Wells; vielleicht hielt der Wind ihn aufrecht.
»Er kommt vom Meer«, sagte Wilbur Larch; er schnupperte – tief – nach Spuren von Salz. Es war eine seltene Seebrise, dessen war Larch sich sicher.
»Woher auch immer, er tut gut«, beschloß Homer.
Beide Männer standen da und hielten die Nase in den Wind. Jeder dachte: Was wird aus mir werden?
5
Homer bricht ein Versprechen Der Bahnhofsvorsteher von St. Cloud’s war ein einsamer, unsympathischer Mann – ein Opfer von
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