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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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er brauchte zwei Klammern, um den Schnitt in der Brust offenzuhalten, und eine weitere Klammer, um die zerfetzte Arterie hochzuheben und bloßzulegen.
    Die Wangen des Babys wirkten hohl und eingefallen; unsichtbare Hände schienen das kleine Gesicht seitlich zusammenzudrücken; das Baby lag auf dem Rücken, die Ellbogen aufgestützt, die Unterarme steif und senkrecht vor der Brust. Die winzigen Hände waren leicht geöffnet – als wolle das Baby einen Ball fangen.
    Homer kümmerte sich nicht um das ramponierte Aussehen des Nabelschnurstumpfes, der außerdem zu lang war; er schnitt ihn noch einmal kürzer und band ihn ordentlich ab. Ein wenig geronnenes Blut war auf dem winzigen Penis, und Homer wischte es weg. Ein alter Blutfleck an der strahlendweißen Kante des Emailletabletts ließ sich leicht entfernen, lediglich mit einem in Alkohol getupften Wattebausch. Die Farbe des toten Babys, vor allem gegen das Weiß des Tabletts, war bleich bis gräulich. Homer drehte sich geschwind zum Ausguß und erbrach sich. Als er den Hahn laufen ließ, um den Ausguß zu säubern, klopften und jaulten die alten Rohre; er dachte, daß es die Rohre wären – oder sein Schwindelgefühl –, was den Raum, das ganze Gebäude beben machte. Er dachte nicht an den Wind von der Küste und wie stark er war!
    Auch machte er Dr. Larch keinen Vorwurf. Homer fand, daß es hier nicht um so etwas Einfaches ging wie Schuld; es war nicht Larchs Schuld; Larch tat das, woran er glaubte. Für Schwester Angela und Schwester Edna war Wilbur Larch ein Heiliger, für Homer Wells aber war er ein Heiliger und ein Vater. Die Kategorien lebensfähig oder nichtlebensfähig gab es für Homer Wells nicht. Man mag es als Fötus bezeichnen, als Baby oder als Produkt der Empfängnis, dachte Homer Wells, aber wie immer man es bezeichnet, es lebt. Und was immer man damit machte, dachte Homer – und wie immer man das bezeichnet, was man damit macht –, man tötet es. Er betrachtete die verletzte Pulmonalarterie, die in der Brust des Babys aus Three Mile Falls so perfekt herauspräpariert war. Larch mag es bezeichnen, wie er will, dachte Homer Wells. Es ist seine Entscheidung; wenn es ein Fötus ist für ihn, gut. Für mich ist es ein Baby, dachte Homer Wells. Wenn Larch frei wählen kann, dann kann ich das auch.
    Er nahm das fleckenlose Tablett und trug es auf den Flur, wie ein stolzer Kellner ein besonderes Gericht für einen bevorzugten Gast trägt. Curly Day lungerte schnoddernäsig wie immer im Korridor zwischen der Apotheke und Schwester Angelas Büro herum. Er durfte hier nicht spielen, aber Curly Day hatte diesen Alles-wird-so-schnelllangweilig-Blick und die Konzentrationsfähigkeit eines Kaninchens. Momentan schleppte Curly einen Pappkarton durch den Korridor. In dem Karton waren die neuen Klistierbeutel gekommen, wie Homer erkannte, der ihn ausgepackt hatte.
    »Was haste da?« fragte Curly Day Homer, der das Tablett und das tote Baby aus Three Mile Falls schulterhoch hielt; Curly Day reichte Homer bis zur Taille. Als Homer neben den Karton gekommen war, sah er, daß dieser nicht leer war; drin saß David Copperfield junior, und Curly Day fuhr ihn spazieren.
    »Mach, daß du rauskommst hier, Curly«, sagte Homer.
    »Gomer!« schrie David Copperfield.
    »Homer heißt es, du Trottel«, sagte Curly Day.
    »Gomer!« schrie David Copperfield.
    »Macht, daß ihr rauskommt hier, bitte«, sagte Homer zu ihnen.
    »Was haste da?« fragte Curly Homer. Er langte hinauf, nach der Kante des Tabletts, aber Homer pflückte seine schmutzige kleine Hand ab; er packte Curly am Handgelenk und drehte ihm den Arm auf den Rücken.
    Geschickt balancierte Homer das Tablett und dessen Inhalt; Curly sträubte sich.
    »Au!« schrie Curly. David Copperfield versuchte sich aus der Tiefe des Kartons aufzurichten, aber er verlor das Gleichgewicht und setzte sich wieder.
    Homer zog Curly den Arm hinter dem Rücken hoch – nur ein wenig über den rechten Winkel hinaus –, was Curly zwang, sich zu bücken und seine Stirn auf den Rand des Klistierbeutelkartons zu stützen. »Hör auf«, sagte Curly.
    »Du verschwindest, Curly – richtig?« fragte Homer.
    »Jaaa, jaaa«, sagte Curly, und Homer ließ ihn los. »Harter Bursche«, sagte Curly.
    »Richtig«, sagte Homer Wells.
    »Gomer!« brachte David Copperfield hervor.
    Curly Day wischte sich die Nase an seinem zerschlissenen Ärmel. Er riß so plötzlich an dem Karton, daß David Copperfield zur Seite rollte. »Aaach!« schrie Klein

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