Gottes Werk und Teufels Beitrag
Schrei des Bahnhofsvorstehers nicht ohne Wirkung; er gellte so laut, daß eine Taube von der Dachrinne des Hauses aufflog und (weil keine Taube gern nachts fliegt) geräuschvoll über das Dach des Bahnhofsvorstehers hüpfte und trippelte, auf der Suche nach einem ruhigeren Plätzchen. Der Bahnhofsvorsteher lag auf dem Rücken und starrte in sein Dach hinauf, als könnte die wandernde Seele jeden Augenblick auf ihn herabstoßen. Das Gurren der Taube konnte nur der Schrei eines weiteren gepeinigten Sünders sein. Der Bahnhofsvorsteher stand auf und spähte aus seinem Schlafzimmerfenster hinaus auf den schmalen, vom Nachtlicht schwach beleuchteten Gemüseacker, den er vor kurzem umgegraben hatte. Die frische Erde entsetzte ihn, weil der Acker für ihn so aussah wie ein frisches Grab. Sie jagte ihm einen solchen Schrecken ein, daß er sich schnell anzog und nach draußen stapfte.
Denn seine Postversandreligion hatte ihn auch gelehrt, daß die Seelen der Toten nicht in einen Körper einfahren können, der sich bewegt. Vor allem durfte man sich nicht im Schlaf überraschen lassen oder auch nur stillstehen. Und darum machte sich der Bahnhofsvorsteher flotten Schrittes und unerschrocken auf den Weg nach St. Cloud’s. Drohend brummte er gegen die angeblichen Gespenster, die er überall erblickte. »Geht weg«, knurrte er – bei diesem Gebäude, bei jenem Geräusch, bei jedem unvertrauten Schatten. Ein Hund kläffte in einem Haus. Der Bahnhofsvorsteher überraschte einen Waschbär, der sich an einer Mülltonne zu schaffen machte, aber lebende Tiere störten ihn nicht; er zischte den Waschbär an und war zufrieden, als dieser zurückzischte. Um das verlassene Gebäude, wo dieser fette Alptraum von einem Mädel aus dem Waisenhaus so viel Schaden angerichtet hatte, machte er einen weiten Bogen. In solchen Gebäuden, das wußte er, waren die verlorenen Seelen besonders zahlreich und grimmig.
In der Umgebung des Waisenhauses fühlte er sich sicherer. Vor Dr. Larch hatte der Bahnhofsvorsteher zwar einen Heidenrespekt, doch an Kindern und deren mutmaßlichen Seelen ließ er seine Wut aus. Wie die meisten Leute, die sich leicht ins Bockshorn jagen lassen, entwickelte sich der Bahnhofsvorsteher, sowie er Oberwasser bekam, zum Tyrannen. »Verfluchte Gören«, brummte er, als er an der Mädchenabteilung vorbeikam. Er konnte nicht an die Mädchenabteilung denken, ohne sich auszumalen, was er diesem großen, dicken Grobian von einem Mädchen – der Zerstörerin, wie er sie nannte – alles antun wollte. Sie war mehr als eine nächtliche Horrorvision; häufig diente sie ihm im Traum als Mannequin für die Büstenhalter und Strapsgürtel. Er blieb nur kurz vor der Mädchenabteilung stehen und schnupperte, in der Hoffnung, den Duft von Melony, der Bautenzerstörerin, zu riechen – doch der Wind war zu stark; der Wind war überall. Wie ein Wind des Jüngsten Gerichts! dachte er und ging schnell weiter. Er wollte nicht so lange stehenbleiben, bis eine der schrecklichen Seelen in ihn einfuhr.
Er war auf der falschen Seite der Knabenabteilung, um das erleuchtete Fenster von Schwester Angelas Büro zu sehen, aber er konnte über das Gebäude sehen, zum Hügel hinauf, und konnte das Licht aus dem Fenster sehen, das den zerklüfteten, unbepflanzten Hügel beleuchtete. Es beunruhigte ihn, daß er nicht sehen konnte, woher das Licht kam; es war unheimlich, wie ein Licht von nirgendwo einen kahlen Hügel (bis hinauf zum schwarzen Waldrand) erglühen lassen konnte.
Der Bahnhofsvorsteher hätte heulen mögen über seine Ängstlichkeit, doch statt dessen verfluchte er sich; so viel von seinem Schlaf ging an die Furcht verloren, und der erste Zug kam schon so früh am Morgen. Den größten Teil des Jahres traf der Zug noch bei Dunkelheit ein. Und diese Frauen, die mit ihm kamen, manchmal … Den Bahnhofsvorsteher schauderte. Diese Frauen in ihren weiten Kleidern, und immer fragten sie, wo das Waisenhaus sei – manche von ihnen fuhren noch am gleichen Abend zurück, mit aschfahlen Gesichtern, ähnlich jenen aus seinen nächtlichen Horrorvisionen. Ähnlich auch wie Claras Gesicht, obschon der Bahnhofsvorsteher natürlich nicht wußte, daß sie Clara hieß. Er hatte nur einen einzigen, kurzen Blick auf Clara geworfen, und es schien ihm ungerecht, daß er sie seither so oft sehen mußte; und jedesmal sah er mehr von ihr – in seinen Träumen.
Als der Bahnhofsvorsteher etwas hörte, was – wie er dachte – Stimmen waren, spähte er über die
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