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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Bahnhofsvorsteher nicht da war; er wußte nicht, daß der Bahnhofsvorsteher vermißt wurde. Wilbur Larch konnte keinen Aufruhr unter den Seelen am Himmel über St. Cloud’s entdecken. Bei seiner Arbeit, die er als seine Berufung empfand, konnte Dr. Larch nicht viel über die Seele nachdenken.
    Vor diesem Morgen hatte Homer Wells noch keinen Anlaß gehabt, über die Seele nachzugrübeln. Ein Studium der Seele war nicht Teil seiner Ausbildung gewesen. Und weil der Raum, in dem Homer seine Studien an Clara trieb, keine Fenster hatte, konnte ihn weder der Bahnhofsvorsteher noch dessen Seele überraschen.
    Dr. Larch hatte Homer aufgefordert, einen Fötus zur Autopsie vorzubereiten.
    Eine Frau aus Three Mile Falls war erstochen worden, oder sie hatte sich selbst erstochen; in Three Mile Falls kam das öfter vor, doch die Frau war hochschwanger gewesen – und eine tote Frau von einem lebenden Baby zu entbinden war sogar für Dr. Larch etwas Ungewöhnliches. Er hatte versucht, das Kind zu retten, aber das Kind (oder vielmehr der Fötus) war einer der Stichwunden erlegen. Wie die Mutter, so war auch das Kind (beziehungsweise der Fötus) verblutet. Es wäre ein Junge geworden – das war nicht nur für Homer Wells, sondern sogar für ein ungeschultes Auge leicht erkennbar; wie immer man es bezeichnete, es war ein beinah voll entwickeltes Baby. Dr. Larch hatte Homer gebeten, ihm zu helfen, herauszufinden, wie oder woran der Fötus verblutet war.
    Homer Wells hatte sich schon von Dr. Larch die Sternum-Schere ausgeborgt, als ihm klar wurde, daß er nur eine kräftige normale Schere brauchte, um das Brustbein des Fötus zu öffnen. Er schnitt in der Mitte gerade hinauf und bemerkte sofort die aufgeschlitzte Pulmonalarterie; zu seiner Überraschung war die Wunde kaum einen halben Zoll von einem weit geöffneten Ductus entfernt – beim Fötus ist der Ductus arteriosus halb so groß wie die Aorta, aber Homer hatte noch nie in das Innere eines Fötus geblickt; beim Neugeborenen ist der Ductus nach zehn Tagen nichts als ein faseriger Faden. Diese Veränderung wird nicht durch ein Wunder bewirkt, sondern durch den ersten Atemzug, der den Ductus schließt und die Lunge öffnet. Beim Fötus ist der Ductus eine Umleitung – das Blut umgeht die Lunge auf seinem Weg zur Aorta.
    Es hätte kein Schock sein müssen für Homer Wells, als er den Beweis dafür fand, daß die Lunge eines Fötus wenig Blut braucht; ein Fötus atmet nicht. Dennoch war Homer schockiert; die Stichwunde, an der Basis des Ductus, sah aus wie ein zweites Auge neben der kleinen Öffnung des Ductus selbst. Es lag auf der Hand: der Ductus war weit geöffnet, weil dieser Fötus nie seinen ersten Atemzug getan hatte.
    Das Leben eines Embryos ist nichts anderes als Entwicklungsgeschichte. Homer befestigte eine winzige, nadelfeine Klammer an der verletzten Pulmonalarterie. Er wollte im Gray das Kapitel ›Embryo‹ nachschlagen. Ein weiterer Schock war es für ihn, als ihm einfiel, daß der Gray nicht mit dem Embryo begann; er endete mit ihm. Der Embryo wurde als letztes behandelt.
    Homer Wells hatte die Produkte der Empfängnis in vielen Stadien ihrer Entwicklung gesehen: manchmal in einigermaßen vollständiger, dann auch wieder in so wenig entwickelter Form, daß sie kaum als solche erkennbar waren. Er konnte nicht sagen, warum ihn diese alten, schwarzweißen Zeichnungen so stark berührten. Im Gray war der Kopf eines menschlichen Embryos im Profil abgebildet. Er war etwa siebenundzwanzig Tage alt, noch nicht quick, wie Dr. Larch erquickend sachlich festgestellt hätte, und auch noch nicht als menschlich erkennbar: was einmal die Wirbelsäule werden würde, war abgeknickt wie ein Handgelenk, und wo dereinst die Knöchel der Faust wären (über dem Handgelenk), war das unausgebildete Gesicht eines Fisches (jene alptraumhafte Sorte, die in lichtlosen Tiefen haust und niemals gefangen wird). Die Unterseite des Embryokopfes glotzte wie ein Aal; die Augen waren seitlich am Kopf, als könnten sie dadurch alle Angriffe bannen. Mit acht Wochen ist der Fötus zwar noch nicht lebensfähig, hat aber bereits eine Nase und einen Mund; er hat einen Gesichtsausdruck, dachte Homer Wells. Und mit dieser Entdeckung – daß ein Fötus bereits mit acht Wochen einen Gesichtsausdruck hat – fühlte sich Homer Wells in Gegenwart dessen, was andere eine Seele nennen.
    Er präparierte die Pulmonalarterie des Babys aus Three Mile Falls auf einem flachen, weiß emaillierten Untersuchungstablett;

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