Gottes Zorn (German Edition)
sich eine dicke Schicht pappigen Schnees gelöst und war gerade dabei hinunterzurutschen. Aus einer Schneewehe ragten die beiden obersten Sprossen der Rückenlehne einer alten Gartenbank heraus, deren Farbe abgeblättert war.
Alles kommt irgendwann wieder ans Tageslicht, dachte Joel.
Was der Schnee versteckt, bringt das Tauwetter zutage.
Um auf andere Gedanken zu kommen, stand er auf, nahm die Kanne aus der Maschine und schenkte Kaffee nach.
«Singen Sie immer noch?», fragte er.
«Ja, natürlich! Die Moonlighters haben sich zwar längst aufgelöst, der Bassist und der Schlagzeuger sind sogar schon gestorben. Aber ich singe noch immer auf diversen Veranstaltungen. Auf fünfzigsten Geburtstagen und dergleichen. Und manchmal springe ich auch bei diversen Tanzbands ein.»
Sie riss die Augen auf, zeigte ihre perlweißen Zähne in einem charmanten Reklamelächeln und öffnete die Finger in einer kreisenden Bewegung.
«Special guest, Siw Wollgren!», rief sie aus, während ihre Augen vor Lebenslust sprühten.
Joel musste lachen.
Man merkte ihr an, wie sie sich darüber freute, dass ihm ihr Gag gefiel.
«Und dann schreibe ich ja noch», fügte sie hinzu, nachdem sie sich einige Kekskrümel aus dem Mundwinkel gewischt hatte. «Ich habe übrigens im Interview in der
Ystads Allehanda
gelesen, dass Sie ebenfalls schreiben.»
«Na ja», wand sich Joel und fragte sich im Stillen, was Roger Holgersson in seinen Artikel noch alles hineingepackt hatte. «Eigentlich habe ich hauptsächlich als Lehrer gearbeitet. Musiklehrer. Aber es stimmt, ich bin hier rausgezogen, um ein Buch zu schreiben. Ich habe mich vor einem Jahr scheiden lassen. Aber inzwischen hab ich aufgehört. Also mit dem Schreiben.»
«Wie schade.»
Joel zuckte mit den Achseln. «Es war ziemlich mies.»
«Tja, ich schreibe nur gute Geschichten.»
«Aha …?»
Ihrem Gesichtsausdruck konnte er nicht entnehmen, ob sie ihn foppen wollte.
«Gute Geschichten?», wiederholte er ungläubig.
«Ja, glauben Sie jetzt bitte nicht, dass ich unter Größenwahn leide. Eigentlich ist es nichts Besonderes. Aber ich schreibe alle vierzehn Tage eine kleine Kolumne auf der Familienseite der
Allehanda
. Die Rubrik heißt so. Gute Geschichten. Darin gebe ich alltägliche positive Ereignisse aus dem realen Leben wieder. Eine entlaufene Katze, die wieder nach Hause gefunden hat. Ein Rosenbusch, der zu blühen beginnt, als alle schon dachten, er wäre abgestorben. Manchmal finde ich auch etwas im Internet. Ein verlorener Sohn, der zu seinen alten Eltern zurückkehrt.» Sie zwinkerte ihm mit ihren verdächtig langen Wimpern zu. «Der Sinn besteht darin, dass es positive Begebenheiten sind, Geschichten, die Mut machen und Freude vermitteln. Nichts Negatives, denn davon erleben die Leute schon genug. Meine Kolumne wird von den Lesern wirklich sehr geschätzt.»
«Interessant», meinte Joel und beschloss, sie bei der nächsten Gelegenheit einmal zu lesen.
Sie unterhielten sich noch eine Weile lang. Stellten sich gegenseitig Fragen über einander und zu Mårten, ohne irgendwelche unangenehmen Themen zu berühren.
«Sie haben meinen Vater viele Jahre lang gekannt», sagte Joel schließlich. «Mehr als ich selbst.»
«Ja», stimmte Siw zu. «Ich würde mal behaupten, die Person zu sein, die Mårten Lindgren auf der ganzen Welt am besten gekannt hat.»
Als es Joel nicht ganz gelingen wollte, seine nächste Frage zu formulieren, wand er sich unbewusst. «Äh, ich wollte sagen … meine Mutter. Elna. Kannten Sie sie auch?»
«Oh ja! Wir gingen in der Grundschule in dieselbe Klasse. Sie hatte schon damals Probleme, die Arme.»
«Probleme …?»
Siw Wollgren schob bekümmert ihre gezupften Augenbrauen zusammen. «Wie alt waren Sie denn, als sie verschwand?»
«Sechs. Oder vielleicht sieben.»
«Dann ist es für Sie bestimmt nicht leicht gewesen, es zu begreifen.»
«Was denn zu begreifen?»
«Dass sie krank war.»
Joel schaute sie verständnislos an.
«Ihre Mutter war in vieler Hinsicht eine entzückende Frau. Hübsch, aber sonderbar. Es begann bereits in der Schule und wurde immer schlimmer. Irgendwann erfuhren wir, dass sie manisch-depressiv war. Also unter einer bipolaren Störung litt, wie man es heutzutage nennt. Sie bekam manchmal fürchterliche Wutausbrüche. Und es wurde auch nicht besser, als sie begann, haufenweise Tabletten zu schlucken. Wir hatten regelrecht Angst vor ihr.»
Es war, als öffnete sich vor Joel ein Abgrund.
Plötzlich stand er am Rande eines
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