Gottes Zorn (German Edition)
berührte mit den Fingern das kalte Fensterglas. Oder habe ich geschrien, und keiner hat es gehört?
Am Abend dann: der große Topf auf dem Küchentisch.
Mårten schlingt das Essen herunter. Joel schweigt. Dann springt er unvermittelt auf, sodass sein Stuhl umkippt. Er ahnt, dass gleich ein Orkan losbrechen wird. Doch Mårten schaut ihn nur mit erstauntem Blick an, Soße im Mundwinkel. Als begreife er rein gar nichts.
«Du musst das hier unbedingt probieren, Joel. Es schmeckt wirklich verdammt lecker.»
Mein Vater ist ein Kannibale, denkt Joel, als er aus der Küche stürzt.
***
D er Keller war mit all dem Krimskrams voll, der sich in einem Haus ansammelt, wenn man viele Jahre darin gewohnt hat. Abgenutzte Möbel, die nach Schimmel rochen. Ein ausrangierter Kühlschrank und zwei alte Fernseher. Eingemottete Kleidung. Ein Stapel alter Autoreifen. Aber darüber hinaus lagerte dort auch einiges andere: Hunderte von Leinwänden, die übereinandergestapelt waren. Und in der einen Ecke stand eine große Blechvorrichtung mit Rohren und Schläuchen. Zweifellos ein Schnapsbrennkessel.
«Der da kommt mir bekannt vor», sagte Joel. «Er stand schon immer hier unten und blubberte oft tagelang vor sich hin.»
Die kaputte Fensterscheibe war durch eine Spanholzplatte ersetzt worden. Die Glassplitter auf dem Boden waren verschwunden.
«Der Mörder hat die Scheibe mit einem Ziegelstein eingeschlagen und es dann geöffnet, ohne sich zu schneiden», erklärte Fatima. «Die Techniker haben Fasern von einem Kleidungsstück gefunden, die sie gerade untersuchen. Nachdem er Mårten erdrosselt und danach erhängt hatte, muss der Täter durch die Haustür wieder hinausgegangen sein, ohne sie zu verschließen.»
Joel sah sich im Keller um. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dort zu stehen. Wie oft war er hier hinuntergeschlichen und hatte sich zwischen all den Gerätschaften versteckt, wenn Mårten oben herumtobte und schrie. Sich unter einer Plane oder in einem großen Karton verkrochen. Die Luft angehalten und seine eigenen Herzschläge gezählt. Und gehofft, dass das Gewitter vorbeiziehen würde.
«Darf man etwas anfassen?»
«Ich glaube, das macht nichts.»
Auf gut Glück öffnete er ein paar Kartons und beförderte diverse Gegenstände und alte Klamotten zutage. Aber darunter fand sich nichts, was er wiedererkannte. Der Kleiderschrank, dessen Tür lose an einem Scharnier hing, enthielt lediglich ein Paar ausgetretene Stiefel und einige ausgeblichene Blaumänner, die voller Farbflecken waren. Auch keines der Möbelstücke unter der großen Plastikplane erkannte er aus seinem Kinderzimmer wieder. Joel seufzte. Er wünschte, er hätte irgendwelche Erinnerungsstücke gefunden. Fotoalben. Oder Bücher, damals hatte er doch Pippi Langstrumpf, Winnetou und alles Mögliche verschlungen, oder? Wer hatte sie ihm eigentlich geschenkt? Und wo waren sie abgeblieben? Seine Micky-Maus- und Fantomas-Hefte? Früher einmal hatten sie hier unten in Kartons gelegen. Genau wie seine Sammlung mit außergewöhnlichen Steinen und Schnecken, die er bei Haväng gefunden hatte. Joel wünschte sich, dass er zumindest eine einzige Spur dessen auftun könnte, was ihn als Kind ausgemacht hatte. Ein Kleidungsstück, eine Decke, ein Spielzeug, was auch immer. Aber es schien, dass Mårten bei irgendeiner Gelegenheit alles entsorgt hatte.
Als er seine Suche gerade aufgeben wollte, fiel sein Blick auf einen Gegenstand. Unter einem Haufen Gartengeräten, einem auseinandergefallenen Gartengrill und einigen Rollen rostigen Stacheldrahts erblickte er ein kleines Rad.
Joel räumte einen Teil der Gerätschaften beiseite. Als das meiste weg war, sah er, dass dort ein grünes Jungenfahrrad stand.
Plötzlich erinnerte er sich daran, als wäre es gestern gewesen.
Es ist Ende Juli in den Sommerferien, und die Sonne scheint von einem klaren blauen Himmel, an dem nur hauchdünne Wölkchen vorbeischweben. Über der Regentonne summt eine Hornisse herum. Joel sitzt auf der Treppe und beobachtet sie. Er hat Bauchschmerzen. Ihm ist schlecht vor Sehnsucht nach seiner Mutter, aber tief in seinem Inneren weiß er bereits, dass sie nie wieder zurückkommen wird. In dem Augenblick kommt Mårten in seinem rostigen Pick-up die Weidenallee hinaufgefahren. Er ist fröhlich und lacht, als er die Wagentür öffnet. Fährt Joel mit der Hand durchs Haar und sagt, dass er eine Überraschung für ihn hat. Als er ihn anlächelt, sieht er aus wie ein Monster. Das Fahrrad glänzt, als er es
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