Gottesdienst
»Luke braucht Grenzen. Was hat er denn von Ihnen gehabt? Eine alleinstehende Frau, die trinkt und mit einem Krüppel Unzucht treibt.«
Ihre Augen blitzten auf. Zufrieden mit sich selbst marschierte sie davon.
Einige Minuten später lief ich in der Eingangshalle noch immer auf und ab. Chenilles Beleidigung hatte mich mehr als alles andere getroffen. Verletzt und wütend versuchte ich – viel zu spät – Erwiderungen zu formulieren. Dachten alle Leute so über uns, wenn sie mich mit Jesse sahen? Derart unverblümt hatte mir noch nie jemand seine Vorurteile ins Gesicht geschleudert. Der Polizist hinter dem Schalter blickte mich uninteressiert an.
Tabitha kam jetzt aus dem hinteren Bereich der Wache in die Eingangshalle. Ihr weißes Kleid hing schlaff an ihr herunter. Sie war allein, und sie sah aus, als hätte ihr irgendwas den ganzen Mumm aus den Knochen gesogen.
»Freu dich bloß nicht zu früh. Es gibt keinen Grund zum Feiern«, warnte sie, als sie an mir vorbeiging. »Und glaub bloß nicht, dass das schon alles war.«
»Oh doch, das war es. Du hast heute die Grenze überschritten. Jetzt wirst du Luke nie wiedersehen.«
Sie blieb stehen. Tränen der Wut schossen in ihre Augen. »Es wird nie vorbei sein. Und weißt du auch, warum? Weil Brian in seinem tiefsten Inneren, unter der sauberen Fassade, den Tod in seinem Herzen trägt.«
Selbst unter diesen Umständen war ich geschockt von dieser Aussage. »Musst du ihn wirklich so sehr hassen?«, fragte ich.
»Das hat überhaupt nichts mit Hass zu tun. Es geht um die Erlösung. Wie kann ich dir das nur verständlich machen? Wenn du erlöst wirst, weißt du einfach, was du zu tun hast. Es ist wie … wie ein Blitz und ein Donnern, dir wird der Boden unter den Füßen weggezogen, und dein ganzes Leben -«
»Ach, Kleine, versuch’s doch mal mit’ner anderen Nummer. Wir sind auf einer Polizeiwache. Hier haben sie diese Knast-Bekehrungsnummer schon in sämtlichen Tonlagen gehört.«
Sie atmete schwer. »Weißt du, es ist wie in diesem Mad-Max -Film, den du so magst, Der Vollstrecker. Mel Gibson muss immer mit Vollgas weiterfahren, ganz egal, was auch passiert. Wenn er anhält oder ausweicht, wird er sterben. Wenn ich von Gottes rechtem Weg abweiche, dann wartet das ewige Fegefeuer in der Hölle auf mich und auf meinen Sohn. Also erzähl mir nie wieder, dass ich damit aufhören soll.«
Sie biss sich auf die Lippen, bis sie weiß wurden, und rannte nach draußen. Im Sonnenlicht flammte ihr weißes Kleid auf wie eine Leuchtkugel.
»Ev.«
Ich drehte mich um. Brian näherte sich mit Luke im Arm. Detective McCracken lief neben ihm her. »Ich möchte mich noch mal bei Ihnen entschuldigen, Commander.« Er fuhr Luke durch die Haare. »Sei lieb zu deinem Daddy, Kleiner.«
Luke barg seinen Kopf an Brians Schulter. Brians Gesicht zeigte nicht mehr Ausdruck als ein Totempfahl. Doch kaum war McCracken verschwunden, kam er durch die Lobby gerannt und nahm mich fest in die Arme. Seine grüne Fliegerkombi roch nach Cockpit: nach Plastik, abgestandener Luft und körperlicher Anstrengung. Er musterte mich mit einem bewundernden Lächeln.
»Meine Schwester ist ganz schön hart drauf. Tritt die Scheibe in einem Streifenwagen kaputt.« Er küsste mich aufs Haar. »Danke.«
»Habt ihr die Angelegenheit jetzt geregelt?«
Er gab einen angewiderten Laut von sich. »Wir haben es hier mit Cops zu tun, die sich vom Foto auf einer Weihnachtskarte reinlegen lassen. Ja, alles ganz prächtig. Luke an den Verlorenen Stamm der Geisteskranken zu übergeben ist ein Fehler, der jedem Dorftrottel unterlaufen könnte.«
Ich runzelte die Stirn und bedeutete ihm, besser auf seine Wortwahl zu achten. Luke und der uniformierte Beamte am Schalter hörten ihm zu. Der Beamte verzog den Mund.
Brian spähte durch die Tür. »Ist sie weg?«
»Ja.«
Sein Blick wurde starr. »Die haben Tabitha total den Kopf verdreht. Da ist nur noch Giftmüll drin. Wie sie gelogen hat …« Ein verletzter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Machen wir, dass wir hier rauskommen.«
Draußen verschloss Luke die Augen vor der Sonne.
»Und mach dir bloß keine Gedanken wegen dieser Cops hier«, fügte Brian hinzu. »Das sind die gleichen Hinterwäldler, die dich vor fünfzehn Jahren wegen Drogenbesitz eingebuchtet haben, und alles, was sie heute gezeigt haben, war völlige Inkompetenz.«
Ich zögerte, erwiderte aber nichts, denn im gleichen Moment erkannte ich die beiden Pickups, die neben Brians Mustang standen:
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