Gottesfluch: Thriller (German Edition)
Prozent davon wurden auf Pergament geschrieben und der Rest, mit einer einzigen Ausnahme, auf Papyrus. Das sind die Fakten. Alles andere dagegen ist eine Frage der Interpretation.
Zum Beispiel gibt es folgendes Problem: Der Archäologe, der 1949 als Erster mit Ausgrabungen in Qumran begann, war ein Dominikanermönch namens Vater Roland de Vaux von der École Biblique in Jerusalem. Als er die Höhlen und die Schriftrollen fand, ging er davon aus, dass die Gemeinschaft in Qumran sie angefertigt hätte. Das hat er als Grundlage für seine Rückschlüsse auf das Volk dieser Gemeinde benutzt. Aber das ist ein bisschen so, als würde jemand in tausend Jahren die Reste der Bodleyanischen Bibliothek in Oxford ausgraben, und weil er nur noch einige der alten römischen Texte findet, die dort aufbewahrt werden, kommt er zu dem Schluss, dass die Leute von Oxford Latein sprachen und Gladiatorenkämpfe liebten.«
»Sehr viele Leute in Oxford sprechen tatsächlich Latein«, warf Bronson ein, »und es würde mich nicht überraschen, wenn sie auch eine Vorliebe für Gladiatorenkämpfe hätten.«
Angela lächelte. »Okay, aber du verstehst, worauf ich hinauswill. Der entscheidende Punkt ist folgender: Vater de Vaux ging davon aus, dass die Schriftrollen, weil sie nah an der Siedlung von Qumran vergraben worden waren, auch von Mitgliedern dieser Gemeinschaft verfasst sein mussten. Aber es gab keinerlei empirische Beweise, die diese Hypothese hätten stützen können. Und wenn die Essener tatsächlich die Schriftrollen verfasst hätten, warum sollten sie sie dann so nah an dem Ort verstecken, an dem sie lebten? Als Versteck wäre das doch vollkommen sinnlos gewesen. Aber nachdem de Vaux einmal diese Vorstellung entwickelt hatte, betrachtete er jede Art von Beweis unter diesem Blickwinkel.
Er kam zu dem Schluss, dass das Volk von Qumran einer jüdischen Sekte anhing, den Essenern oder Essäern, einer sehr religiösen Gruppe. Als er dann die Siedlung selber untersuchte, behauptete er, er hätte ein Scriptorium gefunden, einen Ort, an dem Mönche oder Schreiber Manuskripte kopierten oder verfassten. Er stützte diese Behauptung ausschließlich auf seine Entdeckung einer Bank, zweier Tintenfässer und einer Handvoll Schreibwerkzeuge.
Dabei gibt es jede Menge anderer möglicher Interpretationen: Es könnte zum Beispiel ein Schulzimmer gewesen sein oder das Büro von Soldaten oder Kaufleuten. Und nicht einmal das kleinste Fragment einer Schriftrolle wurde jemals in diesem sogenannten Scriptorium gefunden, was einfach lächerlich ist. Denn wäre es tatsächlich ein Raum gewesen, der nur für diese Zwecke benutzt wurde, wäre er voll von den Werkzeugen und Materialien gewesen, die Schreiber benutzten. Zumindest könnte man annehmen, dass man ein paar Fetzen Papyrus oder die Reste von Schriftrollen in den Ruinen gefunden hätte.
Um seine Überzeugung zu stützen, dass die Essener streng religiös waren, identifizierte er auch etliche Zisternen am Ausgrabungsort als jüdische Ritualbäder, sogenannte miqva’ot. Hätte er Qumran isoliert betrachtet, ohne sein Wissen von den Schriftrollen, hätte er vermutlich angenommen, dass diese Zisternen einfach nur Auffangbecken für Wasser waren, was die naheliegendste und logische Schlussfolgerung ist. De Vaux ignorierte außerdem zahlreiche andere wichtige Gegenstände, die an der Ausgrabungsstätte gefunden wurden. Vergiss nicht, Archäologen sind sehr gut darin, unbequeme Tatsachen zu ignorieren – in diesem Punkt haben sie höllisch viel Übung.«
»Ich dachte immer, Archäologie wäre eine Wissenschaft«, erwiderte Bronson. »Wissenschaftliche Methodik, Überprüfung durch Kollegen, Radiokarbonmethode und so.«
»Träum weiter. Wie alle anderen fälschen auch Archäologen Ergebnisse und ignorieren manches, was nicht in ihre Theorie passt. Also, wäre Vater de Vaux’ Theorie richtig gewesen, dann hätten die Essener in Qumran in vollkommener Armut leben müssen. Aber andere Ausgrabungen förderten Geld, Glas, Steingut, metallische Geräte und Schmuckgegenstände zutage, dazu einen Haufen anderer Relikte, die alle zusammen darauf verweisen, dass die Bewohner sowohl sehr weltlich als auch recht wohlhabend waren.«
»Aber wenn Qumran keine religiöse Siedlung war, was war es dann?«
»Wahrscheinlicher ist, dass es ein sehr wohlhabender Herrensitz war: ein Haupt- oder Nebenwohnsitz für eine bedeutende Familie aus der Gegend oder eine Anlaufstelle für Pilger, die unterwegs nach Jerusalem
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