Gottesgericht
Informationen ein Licht darauf geworfen, wie das Werk ins Kloster gelangt war.
Er hatte ihr am Ende ihrer Unterhaltung seine Handynummer gegeben. Zweifellos würde er überrascht sein, so bald schon wieder von ihr zu hören, aber sie musste ihre Ahnung bestätigen lassen.
» Pronto?« , meldete er sich umgehend.
Jane sagte, wer sie war, und behauptete, ihre Neugier hinsichtlich des Ursprungs der Vision lasse ihr keine Ruhe. Sie fand es besser, wenn sie die Zeitbüchse nicht erwähnte – damit wäre offenkundig, dass sie nachforschte, was KOSS trieb, und er hatte sie ermahnt, sich von der Organisation fernzuhalten.
»Ich erzähle Ihnen nur zu gern davon, Signora Wade«, erwiderte er. »Sie erinnern sich vielleicht, dass die Handschrift bis auf eine einzelne illustrierte Seite sehr schlicht ist, während der Behälter oder Schrein, der sie aufnehmen sollte, mit emailliertem Gold überzogen war und den Deckel ein Medaillon zierte, das wie eine Keltennadel aussah und mit Lapislazuli eingelegt war. Alle Zeichen deuteten darauf hin, dass der Schrein in Konstantinopel gefertigt wurde, auch wenn wir annahmen, das Buch sei im Katharinenkloster geschrieben worden. Darin lag kein Widerspruch, denn wenn die Mönche hochwertige Metallarbeiten haben wollten, mussten sie diese wahrscheinlich in einer Goldschmiedewerkstatt der Stadt in Auftrag geben.
Aber dann kam der Durchbruch. Professor Matheson erzählte uns, dass sich unter den 1975 gefundenen Dokumenten ein Brief befand, der die Handschrift begleitet hatte, als sie in die Bibliothek kam, der aber irgendwie von ihr getrennt worden war. Er wurde erst bei der Vorbereitung von Texten für die Publikation zum dreißigjährigen Bestehen entschlüsselt und bewies, dass die Herkunft des Manuskripts eine ziemlich dramatische Geschichte war. Im Jahr 1204 waren die Kreuzfahrer im Begriff, in Konstantinopel einzudringen – ein Ereignis, das übrigens in der Vision vorhergesagt wurde. Sie müssen sich vorstellen, wie ein Mönch in der Bibliothek des Patriarchen den Brief schreibt, während ein Bote schon bereitsteht. Er erklärte, die Stadt werde belagert und der Patriarch sende die Vision zur sicheren Aufbewahrung ins Katharinenkloster …«
Jane musste sich auf die Zunge beißen. Die Zeitbüchse und die Vision des Gorman hatten Konstantinopel mehr oder weniger zur gleichen Zeit verlassen. Sie zweifelte jetzt nicht mehr daran, dass sie miteinander in Verbindung standen.
»Sind Sie noch da, Signora?« Perselli hatte gespürt, dass sie in Gedanken woanders war.
»Ja, ja. Bitte fahren Sie fort.«
»Und an diesem Punkt nimmt die Geschichte der Vision eine neue Wendung, aber zeitlich gesehen rückwärts. Als der Schreiber seinen Brief schreibt, fällt ihm der historische Widerhall der Situation auf, und er fühlt sich genötigt, zu erwähnen, dass Gorman selbst mehr als vierhundert Jahre zuvor aus Konstantinopel geflohen war.«
»Er erwähnt ihn namentlich?«
»Ja.«
»Sagt er, warum er fliehen musste?«
»Mehr oder weniger. Wir wissen, dass es Mitte des 8. Jahrhunderts eine Massenvernichtung von Ikonen und religiöser Kunst in der Stadt gab. Dieser Bildersturm wurde durch den Kontakt mit dem Islam entfacht, der die Verehrung von Bildnissen als Götzendienst betrachtet. Insbesondere Mönche wurden verfolgt, und wie es scheint, war Gorman im Lager der Bilder-Freunde. Wie der Schreiber in Konstantinopel angibt, war er gezwungen, mit einer Gruppe von Mönchen zu fliehen, die vorhatten, über Land durch den Balkan zum Hafen von Dyrrachion zu reisen – dem heutigen Durrës in Albanien – und von dort per Schiff ins südliche Italien, wo sie vor Verfolgung sicher sein würden. Doch Gorman, der schon im vorgerückten Alter war, hatte nicht mehr die Kraft, eine so lange Reise über schwieriges Terrain zu bewältigen. Dem Schreiber zufolge glaubte man, dass er sein Leben, und ich zitiere, ›unter denen, die wir Illyrer nannten, jetzt Albaner‹ beendet habe.«
»Faszinierend«, sagte Jane aus Höflichkeit, aber in Wirklichkeit konnte sie es nun kaum erwarten, Orhun von ihrer Entdeckung zu berichten.
»Ja, und Adelmo, der Journalist war wie Sie selbst, wollte der Sache unbedingt nachgehen. Er streckte die Fühler zu unseren vielen Kontakten aus, die auf dem Gebiet antiker Handschriften tätig sind. Ein Freund von ihm, der im Vatikan arbeitet, hat schließlich ein Dokument aufgestöbert, das eine Beschreibung von Gormans letzten Tagen in Albanien sein könnte. Adelmo hat an einem
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