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Gottesgericht

Gottesgericht

Titel: Gottesgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Dunne
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Kaffee aus. Es gab nicht viel, was er dagegen tun konnte, dass sich die Galerie so viel Zeit ließ mit einer Schätzung. Sie rechneten wohl damit, dass er wahrscheinlich die Nerven verlieren und die Ikone wieder abholen werde, wenn sie zu »heiß« war. Falls sie tatsächlich gestohlen war, würden sie wahrscheinlich über irgendwelche Kanäle, die Kunsthändler vor kürzlich gestohlener Ware warnten, davon hören. So oder so würde er bei seiner Geschichte bleiben müssen. Aber in dieser gottverdammten Stadt ausharren zu müssen machte es erst recht zu einem Härtetest.
    Als er Giuseppe Rinaldi an jenem Tag, an dem sie die Plastikflaschen voll Wasser vor der Kirchentür gesehen hatten, gefragt hatte, ob er den Unterschied zwischen dem Heiligen und Aberglauben kenne, dann deshalb, weil die Frage ihn häufig beschäftigte. Atheisten und Materialisten standen immer zum Angriff bereit, mit jeder Generation gab es ein neues Kontingent von ihnen. Sie machten jede Anschauung über die Welt, die über diese eine hinausging, als Aberglaube lächerlich. Das lag daran, dass sie kein Verständnis für das Heilige hatten. Leider würden sie in Neapel jede Menge Beweise finden, um ihre Ansichten zu stützen. Was wie christliche Gläubigkeit aussah, war hier oft nicht mehr als unverfälschter Aberglaube – ein religiöser Exzess , der unvermeidlich zum Glauben an Zauberei und Okkultismus führte.
    Die berühmteste religiöse Zeremonie der Stadt war ein entsprechender Fall – die Flüssigwerdung des Bluts ihres Schutzheiligen San Gennaro. Einige Male im Jahr – die jüngste Gelegenheit hatte Kamarda gerade knapp verpasst – präsentierte der Erzbischof der versammelten Gemeinde im Dom eine Ampulle mit einer Substanz, bei der es sich angeblich um Gennaros Blut handelte – der seit siebzehnhundert Jahren tot war! Wenn es sich verflüssigte, dann würde alles gut werden, aber wenn es geronnen blieb, stand Neapel ein Unglück bevor. Dem Kellner, der ihn gerade bedient hatte, zufolge, hatte es sich bei diesem letzten Mal nicht verflüssigt, und das bedeutete seiner Meinung nach einen Ausbruch des Vesuvs – was keine so schwierige Vorhersage war, da er bereits Zeichen von Aktivität erkennen ließ. Das hatte Kamarda auf eine perverse Weise gefreut, denn es bewies seine Ansicht über die abergläubische Natur der ganzen Geschichte – das Phänomen der Verflüssigung hatte seine Wurzeln in einem vorchristlichen Blutritual, das Lavaströme aus dem Vesuv abwehren sollte.
    Es hatte seit Kamardas Ankunft einige kleinere Beben gegeben, alle nachts, wenn er wieder in seinem Hotel gewesen war. Vielleicht waren es auch gar keine Erdbeben gewesen – der Laden war so billig und schäbig gebaut, dass die Wände wahrscheinlich von jedem vorbeifahrenden Lkw erzitterten. Vielleicht stand das Hotel über einem der Hunderte von Höhlen und Tunnel, von denen Neapels Untergrund durchsiebt war wie ein Schweizer Käse. Das weiche, vulkanische Tuffgestein enthielt viele natürliche Hohlräume, aber es war außerdem seit Tausenden von Jahren für die Gebäude der Stadt abgebaut worden, und die teilweise kathedralengroßen Leerräume waren als Katakomben, Lagerhäuser, Zisternen, Kapellen und Klöster benutzt worden – und als Gruben, in die man die Leichen von Pest- und Choleraopfern warf. Und in einem dieser unterirdischen Friedhöfe war eine weitere für Neapel typische religiöse Praxis entstanden. Der Friedhof Fontanelle war ein riesiges Beinhaus, das Schädel und Knochen Tausender namenloser Neapolitaner bis zurück ins 17. Jahrhundert beherbergte. Und irgendwann im 19. Jahrhundert hatte man begonnen, die Schädel für Weissagungen, Heilungen und andere Zwecke zu benutzen.
    Man betete zu den Schädeln oder brachte ihnen Opfer dar, wenn jemand krank war, bei Unfruchtbarkeit oder sogar in der Hoffnung auf einen Lotteriegewinn. Der Hüter eines Schädels mochte etwa behaupten, der frühere Besitzer desselben sei ihm im Traum erschienen und habe ihm diese oder jene Handlung – oder Lotterienummer – empfohlen, die daraufhin an den jeweiligen Bittsteller weitergegeben wurde. Obwohl sich die Kirche gegen diese Praxis stellte, wurde Fontanelle erst 1969 geschlossen und der Schädelkult begann auszusterben.
    Es war jedoch wohlbekannt, dass diese und andere Grabstätten unter Neapel von Teufelsanbetern für Schwarze Messen benutzt worden waren, und es hieß, die enthusiastischsten Praktiker dieser antichristlichen, unterirdischen Riten seien die

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