Gottesgericht
wäre schwierig, sich nach ihm zu erkundigen, ohne sie zu beunruhigen. Aber sobald sie den Minibus bestiegen hatte, löschte das aufgeregte Geplapper der vier Kinder ohnehin alle Gedanken aus.
Ihr Fahrer stellte sich als Botschaftsangestellter heraus, der sie durch den Flughafen führte, und nach dem Sicherheitscheck brachte er sie in eine Diplomatenlounge. Dort saßen Sema und Beril bereits an einem niedrigen Tisch. Und ihnen gegenüber Orhun.
Er sprang sofort auf, als er sie sah, und er und Jane stellten alle Leute einander vor. Debbie setzte sich neben Sema und begann eine Unterhaltung mit ihr, was Jane die Gelegenheit bot, leise mit Orhun zu sprechen.
»Nett, dass Sie gekommen sind, um uns zu verabschieden«, sagte sie. Sie beschloss, keine Bemerkung darüber zu machen, dass sie beide ähnlich gekleidet waren – schwarze Lederjacken, Jeans und Turnschuhe.
»Äh … Ich begleite euch auf dem Flug …«
»Ach so?«
»Bis Paris, meine ich. Und von dort fliege ich weiter.«
»Weiter? Wohin?«
»Nach Neapel.«
Jane war perplex.
»Ich habe die Nachricht vor zwei Stunden erhalten. Das AIS -System an Bord des KOSS -Schiffs ist in den frühen Morgenstunden zum Leben erwacht, und sie haben Neapel als Zielhafen angegeben. Zu diesem Zeitpunkt waren sie irgendwo im Tyrrhenischen Meer, sie werden also in spätestens zwölf Stunden eintreffen, wahrscheinlich schon eher.«
»Dann müssen sie die Vision und die Zeitbüchse doch zusammenbringen.«
»Sieht so aus. Aber jetzt kommt das Rätsel. Man hat mich außerdem informiert, dass Dr. Kelsey in Sizilien aufgetaucht ist. Sie war im Begriff, in ein Flugzeug in die Vereinigten Staaten zu steigen, als sie aufgehalten und durchsucht wurde. Sie hatte die Vision nicht bei sich. Wenn es ihr also gelungen ist, ihre Arbeit an Bord des Schiffs zu verrichten, warum ist es dann jetzt nötig, die Handschrift bis nach Neapel zu bringen? Vielleicht stimmt das, was Sie gestern Abend gesagt haben – vielleicht sind sie außerdem hinter der Ikone her.«
»Aber warum fliegen Sie dorthin?«
Orhun zögerte. »Um Beamte des italienischen Außenministeriums zu informieren.«
»Worüber genau?«
»Darüber, wer diese Leute sind und warum man sie ergreifen sollte.«
Es klang nicht ehrlich. »Wie gut ist Ihr Italienisch?«, fragte Jane.
»Äh … nicht so gut wie mein Englisch oder mein Deutsch. Oder mein Mandarin oder Französisch.«
»Also nicht so toll?«
»Nein. Aber ich komme schon klar. Sie werden sowieso Englisch sprechen.«
»Nicht dort, wo Sie hingehen, nehme ich an.«
»Auswärtiges Amt? Das kann ich mir nicht …«
»Sie treffen keine Leute vom Außenministerium, hab ich recht?«, sagte Jane rasch, da sie sah, dass Debbie zu ihnen herüberkam.
»Ah, Janes beste Freundin«, sagte Orhun und lächelte Debbie strahlend an. »Wir haben gerade noch Zeit für einen Kaffee vor dem Abflug … Möchten Sie einen?«
»Gern«, sagte Debbie und blickte lächelnd zu Jane zurück, während Orhun sie zu einer Selbstbedienungstheke führte.
Jane sah einige Flaschen Rotwein auf der Theke aufgereiht, und aus einem Eiskübel ragten ein paar Fläschchen Weißwein. Vielleicht sollte sie einfach hinüberschlendern und etwas trinken, vergessen, was ihr durch den Kopf ging. Stattdessen gesellte sie sich zu Sema, die allein saß. Karen und Beril hatten einander gefunden, sie standen am Fenster und sahen zu, wie zwei Piloten in ein schlankes Flugzeug mit langer Nase auf der Rollbahn stiegen. Jane bemerkte, dass Berils rabenschwarzes Haar bis zur Hälfte des Rückens fiel – es hatte genau dieselbe Länge wie Karens blondes.
Sema wusste vermutlich, was Orhun vorhatte. Vielleicht würde sie es Jane verraten. Aber sie kam nicht dazu zu fragen, denn in diesem Augenblick läutete ihr Handy. Es war Giuseppe. Die Verbindung war schlecht, und seine Stimme schepperte metallisch.
»Giuseppe, wie geht es?«, fragte sie, legte eine Hand auf ein Ohr und presste das Handy fest an das andere. »Alles in Ordnung bei dir?«
Sie verstand nicht jedes Wort, das er sagte, aber es hörte sich an wie: »… jemand getötet worden … vielleicht diese Leute … weiß nicht, wo Kamarda ist.«
»Was ist mit der Ikone? Hast du sie wieder?«
»Nein … die müssen sie haben … Kamarda vielleicht auch …«
Sie sah zur Lounge hinüber. Die drei jüngeren Kinder malten am Tisch. Die beiden Mädchen begutachteten jetzt Schmuck, der in einer Glasvitrine ausgestellt wurde. Sema und Debbie saßen wieder beisammen und
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