Gottesgericht
aber es gab immer Leute, die eine geschlossene Tür mit einem Schild, auf dem »Kein Zutritt« stand, als einen Angriff auf ihre persönlichen Rechte ansahen.
Die Bibliothek hatte sich in den letzten Jahren durch Renovierung und neue Methoden der Konservierung stark verändert. Eine der größten Veränderungen betraf das Projekt, bei dem der größte Teil der Handschriften und frühen gedruckten Bücher in speziell konstruierte Edelstahlbehälter verlegt wurde. Die großartige Sammlung der Bibliothek sollte dadurch besser vor dem Zahn der Zeit geschützt werden und vor Erdbeben und Feuer sicher sein, aber es machte einen Besuch sehr viel weniger attraktiv. Noch gab es jedoch genügend nicht verpackte Bände in den Regalen hier und dort, die man bei einem kurzen Besuch herzeigen konnte, insbesondere in der Nähe des Digitalisierungsstudios, wo einige Texte aus dem 1975 gefundenen Schatz versammelt waren.
Bei ihrem Rundgang wurde sich Bruder Petros mehr und mehr Dr. Kelseys Weiblichkeit bewusst. Und obwohl sie durchaus sittsam gekleidet war, bemerkte er, als sie die Treppe zur Galerie hinaufstiegen, dass ihre wohlgeformten Beine nackt waren. Ihm dämmerte, dass er den größten Teil des Tages in relativer Nähe zu ihr verbringen würde, denn es war üblich, dass man Forscher, die zu Besuch weilten, diskret überwachte. Doch in seinem Kopf bildete sich bereits eine Strategie heraus.
Er zeigte ihr gerade ein Manuskript, an das er sich jetzt nicht mehr erinnerte, als sie fragte: »Verleihen Sie die Sachen auch?«
Bruder Petros lächelte. Sein langer Bart war von Grau durchsetzt, aber er war noch keine vierzig.
»Selten. Wir mussten vor nicht allzu langer Zeit eine schmerzliche Lektion lernen.«
»Ach ja?«
»Ja. Im Jahr 1865.« Er wartete auf ihre Reaktion.
»Mein Gott, das ist ja wirklich noch ganz frisch«, ging sie auf seinen Witz ein. Die Bibliothek existierte seit siebzehnhundert Jahren. »Was ist passiert?«
»Der Codex Sinaiticus, eine Bibel aus dem 4. Jahrhundert, wurde von einem deutschen Gelehrten namens Konstantin von Tischendorf im Auftrag des russischen Zaren ausgeliehen. Er wurde nach St. Petersburg geschickt, kam aber nie mehr zurück.«
»Man sieht, dass Sie immer noch verärgert darüber sind«, sagte sie und lächelte. »Ich bin genauso, was das Verleihen von Büchern angeht. Ich erinnere mich an alle, die nicht mehr zurückkommen, aber irgendwie vergesse ich immer, wem ich sie geliehen habe.«
Diese Unterhaltung entkrampfte ihr Verhältnis spürbar, und als sie den kleinen Tisch, auf dem der Schutzbrief Mohammeds lag, erreichten, glaubte Bruder Petros, seine Wachsamkeit ein wenig lockern zu können. Man hatte vereinbart, dass das Dokument, das ursprünglich eine Schriftrolle war, aus dem Glasrahmen entfernt wurde, in dem es ausgestellt war.
Er entschuldigte sich für das schlichte Mobiliar. Die Bibliothek mochte an zweiter Stelle hinter der des Vatikans kommen, aber sie wurde immer noch von klösterlicher Kargheit beherrscht, auch wenn es seit Kurzem einen Lesesaal für zu Besuch weilende Wissenschaftler gab. Der Abt hatte jedoch verfügt, das Ahdname nicht weit von der Wand zu entfernen, an der es normalerweise hing.
Bruder Petros sah, wie Dr. Kelsey ihre Tasche auf den Tisch stellte und ihr die Hilfsmittel entnahm, die man ihr genehmigt hatte: eine Digitalkamera, ein Vergrößerungsglas mit eingebauter LED -Lampe, die nur kaltes Licht ausstrahlte, ein Notizbuch, Bleistifte und ein klobiger Zeichenblock für Künstler – andere Zeichen- oder Schreibinstrumente waren nicht erlaubt. Weiße Baumwollhandschuhe waren nicht mehr vorgesehen, da sie keinen Vorteil gegenüber sauberen Händen boten. Im Gegenteil war man mit Handschuhen weniger geschickt beim Umblättern der alten Manuskripte, was die Gefahr einer Beschädigung nur vergrößerte.
Der Schutzbrief war aus Papier, das auf Textil gespannt war, und es handelte sich um eine türkische Kopie des auf den 7. Juli 623 datierten arabischen Originals. Wo der Handabdruck des Propheten ursprünglich die Sicherheitsgarantie für das Kloster beglaubigt hatte – da er seinen Namen nicht schreiben konnte –, befand sich nun die grobe Zeichnung einer Hand. Bruder Petros hatte keine Ahnung, was Dr. Kelsey zu beweisen oder zu widerlegen hoffte. Niemand behauptete, das Dokument sei etwas anderes als eine Kopie des Originals, von Sultan Selim im Jahr 1517 dem Kloster zur Verfügung gestellt. Es war außerdem die Mutter weiterer Kopien in orthodoxen
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