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Gottesopfer (epub)

Titel: Gottesopfer (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Pleva
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genau deshalb in die Klinik? Um sie vor sich selbst zu schützen? Die Fragen rauschten durch seinen Kopf. Wie im Traum nahm er wahr, dass sie durch einen langen weißen Flur gingen. An den Wänden hingen Bilder inbunten, fröhlichen Farben, wie in einem Kindergarten. Im Vorbeigehen sah er eine Sonne und Blumen. Offenbar hängten sie diese Bilder in jeder Anstalt auf, um zu zeigen, wie aktiv die Patienten waren.
    Der Gang schien kein Ende zu nehmen. Auf dem hellgrauen Linoleumbelag quietschten die Gummisohlen der drei Männer. Das Geräusch erinnerte Sam an die Perkussion-Band Stomp, die er zusammen mit Lily in München gesehen hatte. Die Band hatte mit verschiedenen Haushaltsgegenständen, auf Kochtöpfen und Mülltonnen, mit Streichholzschachteln, Stäben und Besen rhythmische Geräusche erzeugt. Eine phantastische Show, die Lily und Sam begeistert hatte. Oft hatten sie danach, wenn sie kochten, auf einmal angefangen, mit Kochlöffeln, Pfannen, dem Salzfass und allem, was ihnen sonst noch in die Finger kam, auf den Küchentisch oder die Anrichte zu schlagen. Sam lächelte und begann mit den Fingern zu schnipsen. Ssst, schnipp, sst, sst, schnipp …
    Pater Dominik und der Arzt blieben stehen und sahen ihn an. »Alles in Ordnung, Herr O’Connor?«, fragte Doktor Willfurth besorgt.
    Sam fuhr wie ertappt zusammen. Wahrscheinlich werde ich jetzt verrückt, und Lilys Dämon kommt zu mir, der Arme ist ja jetzt quasi obdachlos, dachte er sarkastisch.
    Nach wenigen Metern erreichten sie Lilys Zimmer. Doktor Willfurth öffnete die Tür und ließ zuerst den Priester und Sam eintreten, bevor er ihnen folgte. Pater Dominik und der Arzt hielten sich im Hintergrund, während Sam zum Bett ging, in dem seine Schwester lag. Selbst jetzt, kahl und mager, wie sie war, sah sie wunderschön aus. Sam beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. So hatte er sich immer von seiner kleinen Schwester verabschiedet, und so wollte er sich auch an diesem Morgen von ihr verabschieden – für immer. Als er sich aufrichtete und einen Schritt zurücktrat, kämpfte er gegen die Tränen. Er zwang sich, seine Schwester wie eine Fremde zu betrachten, als ob er an einen Tatort gerufen worden wäre und dort irgendeineTote gefunden hätte. Sie hatte sich aufgehängt, hatte der Arzt gesagt. Und tatsächlich, er entdeckte nun den roten breiten Striemen an ihrem Hals, die punktförmigen Stauungsblutungen um die Augen, die durch die Strangulation entstanden waren.
    Dann hörte er, wie Pater Dominik ein Gebet sprach.
    Â»Sie hat nicht an Gott geglaubt«, sagte Sam scharf. Mit einem Schlag verlor er die professionelle Distanz, mit der er sich einige Augenblicke lang wie mit einem Schutzmantel umgeben hatte.
    Â»Ich bete trotzdem für sie, wenn Sie erlauben.«
    Sam wandte sich an den Arzt. Über das Gemurmel des Priesters hinweg fragte er: »Hatten Sie nicht gesagt, dass sie rund um die Uhr überwacht wird? Mit Kameras?«
    Â»Ja, wurde sie auch. Die Nachtschwester, die die Monitore überwacht, war jedoch in einem anderen Zimmer, als Ihre Schwester …«
    Â»War sie denn nicht am Bett angegurtet wie vor ein paar Tagen, als ich hier war?«
    Â»Sie hatte uns gebeten … nun, sie konnte so nicht schlafen …«
    Sam schüttelte genervt den Kopf. »Und Sie haben nur eine Nachtschwester für den ganzen Komplex?«
    Â»Hören Sie, Herr O’Connor, ich weiß, wie sehr Sie das trifft. Aber suchen Sie die Schuld nicht bei uns. Ihre Schwester war suizidgefährdet. Das wird Ihnen auch mein Kollege in München gesagt haben.«
    Â»Ach, und deshalb haben Sie sie losgebunden, um zu sehen, was passiert? Spielen Sie gerne russisches Roulette mit Ihren Patienten?« Sams Augen verengten sich vor Wut zu kleinen Schlitzen.
    Pater Dominik war inzwischen an das Bett der Toten herangetreten und schlug ein Kreuz über ihrer Stirn. Wütend wandte sich Sam an ihn: »Und Sie? Von Ihrem Herumgefuchtel hat sie auch nichts mehr. Und ganz abgesehen davon, sagten Sie nicht, dass Selbstmord eine Sünde ist? Aber vielleicht war es ja auch ihr Dämon, der sie in den Tod getrieben hat, dann war es gar kein Selbstmord, sondern Mord!«
    Doktor Willfurth sah verwirrt von einem zum anderen und versuchte, Sam zu beruhigen. Doch Sam wollte nichts mehr hören. Er verließ den Raum, knallte die Tür hinter sich zu und stand

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