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Gottesopfer (epub)

Titel: Gottesopfer (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Pleva
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dann atemlos, wie nach einem Marathonlauf, auf dem Gang. Erschöpft lehnte er sich gegen die Wand. Und dann sah er sie. Die Patientin, die ihm schon beim letzten Mal aufgefallen war, schlich auch heute über die Gänge. Wieder bewegte sich ihr Mund unaufhörlich. Erst jetzt bemerkte Sam, warum sie so unheimlich aussah. Sie war kahl. Da drehte die Frau ihm den Kopf zu und sah Sam an. Noch nie hatte er in so tote Augen gesehen.

41
    Sam saß geistesabwesend in seinem kleinen Büro. Er war direkt von der Klinik ins Präsidium gefahren. Er hatte gehofft, dass ihn die Arbeit ablenken würde, doch nun saß er über den Akten und Fotos und sah nichts. In seinem Kopf war nichts als Leere.
    Â»Sam? Sam?« Jemand rief seinen Namen, aber die Stimme drang wie durch eine dicke Wand zu ihm. Er wollte nicht darauf reagieren, wollte dort bleiben, wo er gerade war. In dem schwarzen Nichts, wo es keine Gedanken, keine Menschen, keine Emotionen gab.
    Â»Sam? Hey, was ist denn los mit dir?«
    Sam sah auf. Vor ihm stand Juri und sah ihn besorgt an. Er hatte zwei Tassen in der Hand, und Kaffeegeruch stieg Sam in die Nase.
    Â»Meine Schwester ist heute Nacht gestorben«, sagte er so nüchtern, als spräche er darüber, dass seine Schwester sich ein Paar neue Schuhe gekauft hatte.
    Juri stellte Sam eine Tasse hin und ließ sich erschüttert aufeinen Stuhl fallen. »Du hast mir nie erzählt, dass du eine Schwester hast.«
    Â»Ich habe nicht gerne über sie geredet. Vielleicht weil ich Polizist bin und schon von Berufs wegen alles unter Kontrolle haben will. Na ja, meine Schwester hatte ich nicht unter Kontrolle. Sie ist ausgetickt und hat die letzten Monate in der Klapse verbracht.«
    Juri sah ihn betreten an. »Das tut mir leid …  ich …«
    Â»Tja, kann man nun nichts mehr machen«, unterbrach ihn Sam. Er hatte keine Lust, mit Juri über Lily zu reden. Er ärgerte sich fast schon, dass er ihm überhaupt gesagt hatte, dass sie tot war. Er setzte die Kaffeetasse an und trank. Der Kaffee war so heiß, dass er sich die Zunge verbrannte. Er fluchte leise und stellte die Tasse mit Schwung ab, sodass Kaffee auf eines der Fotos schwappte. Es zeigte Gianna Lorenzos Leiche an dem Laternenpfahl. Ihr Kopf war nach unten gekippt. Sam angelte hastig nach einem Taschentuch und versuchte, damit den Kaffee aufzusaugen. Plötzlich hielt er inne. Da war etwas, was er übersehen hatte. Aber was? Wie eine Blase, die aus dem Wasser stieg und kurz vor der Oberfläche platzte, war ein Gedanke in ihm aufgestiegen – und wieder verschwunden. Er konnte ihn nicht festhalten, so kurz hatte der Geistesblitz ihn gestreift.
    Â»Gibt es was Neues? Hast du die Daten vom Pater? Und hast du mit den beiden Beamten gesprochen, die vorgestern Abend die Kirche überwacht haben? Die müssen doch was gesehen haben«, sagte Sam, aufgezogen wie ein Kinderspielzeug. Er hatte Juri gestern noch einige Telefonate erledigen lassen, während er selbst mit den Eltern von Isabella Longi gesprochen hatte.
    Â»Eins nach dem anderen. Bist du dir sicher, dass du heute überhaupt arbeiten willst? Wäre es nicht besser, du gehst ins Hotel und …«
    Sam schüttelte den Kopf. »Das überlass mal besser mir, was ich heute mache und was nicht«, sagte er abweisend. Er nahm erneut einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, diesmal allerdings vorsichtiger.

    Juri zuckte die Schultern, holte seinen Notizblock hervor und berichtete.
    Â»Also, vom Einwohnermeldeamt habe ich noch nichts gehört. Das Bischofsamt hat mir aber gesagt, wo er getauft wurde, und so habe ich mit dem Pfarrer in seinem Geburtsort gesprochen. Er konnte mir ein bisschen was erzählen. Pater Dominik wuchs in Stuttgart auf, besser gesagt in Echterdingen, einem kleinen Kaff in der Nähe. Die Familie lebte sehr zurückgezogen, sagte der Pfarrer. Der Vater kaufte um 1970 das Haus, eine ehemalige Kapelle, und baute sie zu einem Wohnhaus um. Zu den Kindern konnte er wenig sagen. Es gab wohl noch eine Schwester, die jedoch als Kind bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Die Mutter beging später Selbstmord. Der Sohn verließ irgendwann das Haus und ging in ein Kloster. Der Vater hat danach nie mehr über seine Kinder geredet. Das war’s auch schon.«
    Â»Du sagtest, die Schwester kam bei einem Unfall ums Leben. Was war das für ein Unfall?«
    Â»Sie ertrank mit vier Jahren in der Badewanne.

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