Gottesopfer (epub)
Pater seiner Schwester helfen konnte, glaubte er gerne an Dämonen, Geister und Teufel.
»Wissen Sie, woher das Wort stammt?«
»Sicherlich aus dem Griechischen.«
»Ja, daimon heiÃt Geist oder âºdas Schicksal des Menschen beeinflussendâ¹. Es wird abgeleitet von daimonion, das ist die mahnende göttliche Stimme, das Gewissen, das uns jederzeit begleitet. Sokrates zum Beispiel sagte, dass sein daimonion eine innere Stimme sei, die ihn davon abhalte, etwas Unrechtes zu tun. In der griechischen Antike verband man daimon also noch nicht mit negativen Vorstellungen, das war erst im Mittelalterder Fall. Aus Geist wurde nun unter dem Einfluss des Christentums ein böser Geist, der die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Goethe zum Beispiel sagte, dass der Dämon der Charakter eines Menschen sei. Aber zurück zu Ihrer Schwester. Ich glaube nicht, dass es ein Dämon ist, sondern dass bei einer spiritistischen Sitzung eine verlorene Seele in sie eingedrungen ist.«
»Eine verlorene Seele?«, wiederholte Sam und sah den Priester von der Seite an. Wieder war er hin- und hergerissen. Jetzt also auch noch umherirrende Seelen.
»Eine verlorene Seele ist eine Seele, die den Weg ins Licht nicht findet oder im Dunkeln verharrt, weil sie ein Unrecht begangen hat«, erklärte der Pater.
»Sie wollen mir sagen, dass in meiner Schwester die Seele eines Kriminellen lebt?«, fragte Sam skeptisch.
»Nein, kein Unrecht in diesem Sinn. Denken Sie zum Beispiel an die Seele eines Selbstmörders. Das ist eine schwere Sünde und â¦Â«
Wie immer bei den Themen Sünde und Kirche konnte sich Sam kaum beherrschen. »Ja, in den Augen der Kirche vielleicht«, sagte er scharf.
»Keiner hat das Recht, in den Plan Gottes einzugreifen und einem von Gott gegebenen Leben ein Ende zu setzen, auch wenn es sein eigenes ist.«
Sam begann, sich aufzuregen. »Wer sagt denn, dass es nicht zum Plan Gottes gehört, wenn sich jemand das Leben nimmt? Muss denn jeder eines natürlichen Todes sterben? Gehört es zum Plan Gottes, dass alte Leute in ihrer eigenen ScheiÃe in irgendwelchen Heimen dahinvegetieren? Oder dass ein schwer Krebskranker, der keine Chance auf Heilung mehr hat, monate-, vielleicht jahrelang furchtbare Schmerzen hat und leidet?«
»Sie vergessen eines: Wir leben hier in der Hölle, nicht im himmlischen Paradies. Das alles ist Teil unserer Strafe, die wir auf Erden verbüÃen. Manche leben besser in der Hölle, manche schlechter. Ich denke, Sie haben es ganz gut getroffen, oder?«
Inzwischen waren sie auf das Klinikgelände gefahren, undSam suchte nach einem Parkplatz. Langsam beruhigte er sich wieder. Wenigstens mit den letzten Worten hatte der Pater recht. Ja, er hatte es ganz gut getroffen, auch wenn er sich im Moment um Argault und seine Schwester sorgte. Aber er musste keinen Krieg erleben, nicht hungern, nichts entbehren. Er war gesund und wusste, was Recht und Unrecht war. Er trug keine Last mit sich, hatte niemanden verletzt oder gar getötet. Er brauchte keine Gebote, und er brauchte nicht zu beichten, weil er gar nicht erst sündigte. Die Beichte war für Sam die Förderung krimineller Handlungen.
Schweigend gingen sie nebeneinanderher zur geschlossenen Abteilung. Als sie die Anmeldung erreichten, bat Sam die Krankenschwester, Doktor Willfurth zu rufen. Doch noch bevor die junge Frau zum Hörer greifen konnte, öffnete sich hinter ihr die Tür, und der Arzt kam mit wehendem Kittel und bestürzter Miene auf Sam und den Pater zu. Er sah verwirrt von Sam zu Pater Dominik und wieder zu Sam.
»Woher wussten Sie � Wir hatten Sie doch noch gar nicht verständigt.«
Sam wurde kreidebleich. Eine schreckliche Ahnung stieg in ihm auf. Doktor Willfurth sagte etwas zu ihm, doch seine Stimme drang nur undeutlich an sein Ohr, sie schien von weit her zu kommen, und Sam verstand nur Bruchstücke.
»Sie gefunden â¦Â mit ihrem Nachthemd â¦Â erdrosselt â¦Â es tut mir sehr leid.«
Sam fühlte eine Hand auf seiner Schulter, dann hörte er sich selbst sagen: »Ich will sie sehen.«
Hatten sie ihm nicht versprochen, dass Lily hier in guten Händen sei? Wie hatte das passieren können? Sam verstand das alles nicht. Natürlich hatte er gewusst, dass Lily suizidgefährdet war, das hatte ihm schon Professor Klein in München gesagt. Aber brachte man die Patienten nicht
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