Gottessoehne
für uns nur aus leuchtender, zusammenhangloser Farbenpracht bestanden. Ich will besser von Anfang an erzählen, dann wirst Du verstehen was ich meine.«
Kapitel 11
Zwischen Euphrat und Tigris vor ca. 10.000 Jahren
Samsaveel zog erschrocken die Luft ein, als er zum ersten Mal das Gewicht seines neugeborenen Körpers wahrnahm. Aber auch das Heben und Senken seines Brustkorbs sowie das Weiten seiner Lungenflügel war ein komplett neues Gefühl für ihn. Alles war neu, erschreckend und köstlich zugleich auf seine Art.
Er sah sich um. Seine jungfräulichen Augen schmerzten, als das Sonnenlicht in sie eindrang und er musste sie schließen. Dann, vorsichtig, hob er die Lider leicht an, blinzelte und betrachtete voller Staunen die Welt um sich herum. Seine 200 Brüder, allen voran ihre beiden Anführer, Semjaza und Azazel, schienen genauso überwältigt von den ungewohnten Sinneseindrücken zu sein wie er. Semjaza, mit seinem hellblondem schulterlangem Haar, der wie der schwarzhaarige Azazel, die anderen Grigori um einen Kopf überragte, begann als erstes seinen neu erworbenen physischen Körper zu erproben. Er streckte und dehnte die Muskeln seiner Arme und Beine, hüpfte auf und nieder und wagte dann die ersten Gehversuche. Samsaveel und die anderen Wächter fingen an, es ihm gleich zu tun. Wie merkwürdig die Schwerkraft der Erde doch war. Vorbei das Gefühl von grenzenloser Freiheit. Hier auf der Erde war alles begrenzt. Die Farben der Pflanzen und Steine waren hineingepresst in Formen. Es war so ganz anders als die Sphäre der reinen Spektralfarben. Alles, was existierte, hatten die Grigori als eine Flut von Licht, Farben und Energie wahrgenommen, sogar Töne und Geräusche hatten nur aus Energiewellen bestanden, die sich in eine Fülle aus Farben transformieren ließen.
Aber jetzt? Auf der Erde war alles anders. Semjaza und Azazel begaben sich an die Spitze der Gruppe, und nachdem sie die Koordination ihrer Muskeln und Gelenke immer besser beherrschten, setzte sich der gesamte Trupp in Bewegung.
Samsaveel spürte die Erde unter seinen Füßen, die sich mit jedem Schritt zu verändern schien. Mal war sie steinhart, dann weich und nachgiebig. Über seine Haut strich der Wind und überwältigte ihn mit einem Neuronenfeuerwerk, das dieser in seinem Gehirn auslöste.
Auf einmal drang ein lautes Rauschen in sein Ohr. Er konnte das Geräusch nicht einordnen, wollte aber unbedingt die Quelle dieses Lautes ausmachen. Er wand sich nach rechts, das Rauschen wurde leiser. Er drehte sich um, ging unsicheren Schrittes in die entgegengesetzte Richtung und die Lautstärke des undefinierbaren Geräuschs schwoll an. Er musste also auf dem richtigen Weg sein. Weiter schritt er durch das weiche Gras, in dem vereinzelt Bäume mit silbrig grünen Blättern standen. Seine erste Begegnung mit einem Baum war schmerzhaft gewesen. Die Koordination seiner jungen Sehkraft mit der Einschätzung von Entfernung und dem zugehörigen Befehl an seine Muskeln war noch nicht ausgereift und so war er prompt gegen den Stamm eines Baumes gelaufen, der ihm im Weg gestanden hatte. Schmerz! Ein Gefühl, auf das er gerne verzichtet hätte. Schon bald konnte er zwischen zwei Arten von Gefühlen unterscheiden, angenehmen, die es galt, immer wieder zu erfahren und unangenehmen, wie Schmerz, den man besser vermied.
Der Baumbestand wurde immer dichter, je weiter Samsaveel dem Rauschen folgte. Dann versperrte ihm dichtes Gestrüpp den Weg, er kämpfte sich hindurch und kam zu einer kleinen Lichtung, die halb von einer grauen Felswand umrandet war. Das Rauschen und Brausen war nun laut und deutlich zu vernehmen, er musste die Quelle des unbekannten Geräusches gefunden haben. Zuerst konnte er den Anblick, der sich im bot, nicht einordnen. Was war das? Eine weiche, glitzernde, formlose Masse stürzte von einer höheren Ebene hinab, sammelte sich unter einer weißlichen Wolke und bildete eine glatte, durchscheinende Fläche. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Das war Wasser, er stand vor einem Wasserfall. Voller Freude lachte er auf und erschrak sofort über den seltsamen Ton, den sein Kehlkopf erzeugt hatte. Vorsichtig schritt er um den glatten Spiegel des kleinen Sees und näherte sich dem tosenden Wasserfall. Eine Gischt winziger Wassertropfen spritzte in sein Gesicht und wieder lachte er. Er streckte die Zunge heraus, fuhr sich über den, von reinem Wasser, benetzten Mund. So also schmeckte Wasser. Wasser! Der Quell des Lebens!
Eine laute
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