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Gottesstreiter

Titel: Gottesstreiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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zur Klausur. Wo Außenstehenden absolut kein Zutritt gestattet schien, gab es innerhalb der Klausur
     keine Schranken – die Nonnen bewegten sich völlig frei auf dem gesamten Territorium des Klosters. Selbst die Anwesenheit von
     zwei Männern im Kloster, nämlich von Samson und ihm, hatte keinerlei Einfluss auf die Bewegungsfreiheit. Einem eigenartigen
     Zeremoniell wurde jedoch Folge geleistet – die Nonnen taten so, als wären die Männer nicht vorhanden, und die Männer taten,
     als sähen sie die Nonnen nicht. Die Äbtissin betraf das nicht, sie tat, was sie wollte und wann sie es wollte. Freien Umgang
     mit den beiden Männern hatten auch die Schwester Schaffnerin und die Schwester Krankenpflegerin.
    Je mehr Reynevan von den Nonnen akzeptiert und als Vertrauensperson angesehen wurde, umso mehr gestatteten sie ihm, zu sehen.
     Und er sah, dass die vom Orden auferlegte Regel des Wechsels von Buße und Kontemplation in Weißkirchen durch Unterricht, Vorlesen
     aus Schriften und Traktaten, Diskussionen und sogar Dispute ersetzt wurde. Zu diesen märchenhaft erscheinenden Zirkeln war
     er aber nicht zugelassen. Obwohl Jutta Zugang dazu hatte, blieb ihm dieser verwehrt.
    Aber als ein Schock erwies sich erst die Messe. Reynevan ging im Allgemeinen nicht zur Messe. Die Atmosphäre von Weißkirchen
     brachte es mit sich, dass er sich sicher fühlte, er dachte auch gar nicht daran zu verbergen, dass er als Calixtiner und Utraquist
     weder eine Papistenmesse noch die Kommunion anerkannte.
    Einmal jedoch verspürte er das Bedürfnis, zur Messe zu gehen, |620| und ging, da er es nach einigem Nachdenken für recht zweifelhaft hielt, dass Gott Zeit habe, sich um liturgische Einzelheiten
     zu kümmern und sich darüber aufzuregen, auch hin. Er ging in die Kirche und erlebte einen Schock.
    Die Messe zelebrierte die Äbtissin.
    Eine Frau.
     
    Nach ein paar Tagen ließ die Äbtissin Reynevan plötzlich zu sich rufen. Auf dem Weg zu ihr wurde ihm sowohl bewusst, dass
     dies eine Ehre bedeutete, wie auch, dass sie ihn prüfen würde. Er hatte dies schon lange erwartet.
    Als er eintrat, saß sie an einem Pult und las in einer Inkunabel. Als Bibliophiler und Bibliomane erkannte Reynevan an der
     Ausgestaltung und den Holzschnitten sofort das ›Psalterium decem cordarum‹ des Joachim von Fiore. Seiner Aufmerksamkeit entgingen
     auch die in Reichweite liegenden anderen Werke nicht: der ›Liber divinorum operum‹ der Hildegard von Bingen, ›De amore Dei‹
     des heiligen Bernhard, die ›Theogonia ‹ des Hesiod und ›De ruina et reparatione Ecclesiae‹ von Nicolas de Clamanges. Ohne
     dies wahrzunehmen, wunderte er sich keineswegs, in dieser Nachbarschaft auch ein zerfleddertes Exemplar des ›Necronomicons‹
     zu finden.
    Die Äbtissin betrachtete ihn eine Zeit lang über die geschliffenen Gläser ihrer Brille hinweg, als wolle sie prüfen, wie lange
     er in der Lage sei, diesen Blick zu ertragen.
    »Es ist unfassbar«, sagte sie schließlich, und der Zug um ihre Mundwinkel konnte sowohl ein Lächeln bedeuten wie auch das
     Gegenteil, »es ist unfassbar. Nicht nur, dass ich in meinem Kloster einen Hussiten gesund pflege, nicht nur, dass ich einen
     Häretiker beherberge. Nicht nur, dass ich hier einen Magier dulde, wer weiß, vielleicht sogar einen Nekromanten. Nicht nur,
     dass ich ihn toleriere und pflege, nein, ich gestatte ihm auch noch, sich mit einer meiner Obhut anvertrauten
conversa
Liebesspielen hinzugeben. Mit einem Edelfräulein, für das ich die Verantwortung trage.«
    |621| »Wir lieben uns   ...«, begann er. Aber sie ließ ihn nicht ausreden.
    »Das stimmt. Das tut ihr ziemlich oft. Aber ich bin neugierig, ob ihr auch schon mal über eventuelle Konsequenzen daraus nachgedacht
     habt? Wenigstens einen kurzen Moment lang?«
    »Ich bin Arzt   ...«
    »Erstens, vergiss das nicht. Zweitens ging es mir dabei nicht nur um Empfängnisverhütung.«
    Sie schwieg eine Zeit lang und spielte mit der Leinenschnur, mit der ihr Habit umwunden und die mit den vier Knoten geschlossen
     war, die die Gelöbnisse der heiligen Klara, der Patronin und Gründerin des Ordens der Armen Frauen, symbolisierten.
    »Es ging mir um die Zukunft.« Sie strich sich mit der Hand über die Stirn. »Eine sehr unsichere Sache in der heutigen schweren
     Zeit. Denkst du an die Zukunft? Nein, nein, Einzelheiten interessieren mich nicht. Nur die Tatsache allein.«
    »Ich denke an die Zukunft, ehrwürdige Mutter.«
    Sie blickte ihm direkt in die

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