Gottesstreiter
Augen. Sie hatte eine graublaue helle Iris. Ihre Gesichtszüge erinnerten ihn an jemanden. Aber
er kam nicht darauf, an wen.
»Du denkst daran, sagst du.« Sie hielt den Kopf schief. »Und was, wenn ich fragen darf, überwiegt? Woran denkst du mehr? An
Jutta oder an das, was gut für sie ist? Oder an den Krieg? Den Kampf um die gerechte Sache? Den Wunsch, die Welt zu verändern?
Und wenn es, nehmen wir einmal an, zum Konflikt kommt, wenn die Ideale einander gegenüberstehen ... was wirst du wählen? Und worauf verzichtest du?«
Er schwieg.
»Es ist bekannt«, fuhr sie fort, »dass, wenn es um große und wichtige Dinge geht, der Einzelne nicht zählt. Den Einzelnen
opfert man. Jutta ist so eine Einzelne. Was wird mit ihr? Wirfst du sie weg wie einen Stein auf die Schanze?«
»Ich weiß es nicht«, er schluckte schwer, »ich kann und ich |622| will dir nichts verbergen, ehrwürdige Mutter. Ich weiß es wirklich nicht.«
Sie blickte ihm lange in die Augen.
»Ich weiß, dass du es nicht weißt«, sagte sie schließlich. »Ich habe auch keine Antwort erwartet. Ich möchte ganz einfach
nur, dass du ein bisschen darüber nachdenkst.«
Kurz nach St. Peter und Paul, als sich alle Wiesen mit dem Blau der Kornblumen überzogen hatten, setzten unangenehme, lang
anhaltende Regengüsse ein. Die Orte, an denen sich Reynevan und Jutta ihrem Liebestaumel hingegeben hatten, hatten sich in
schlammige Sümpfe verwandelt. Die Äbtissin sah eine Zeit lang zu, wie die Liebenden unter den Arkaden umherwandelten, wie
sie sich in die Augen blickten, um sich dann schließlich zu trennen und auseinander zu gehen. Eines Abends, nachdem sie in
der Abtei einige Änderungen bei den Unterkünften hatte vornehmen lassen, rief sie die beiden zu sich. Und führte sie in eine
Zelle, die aufgeräumt und mit Blumen geschmückt war.
»Hier werdet ihr wohnen«, erklärte sie kurz angebunden. »Und schlafen. Alle beide. Von jetzt ab. Von dieser Nacht an.«
»Danke, ehrwürdige Mutter.«
»Dankt mir nicht. Und verliert keine Zeit.
Hora ruit, redimite tempus.
«
Der Sommer kam. Der heiße, brennende Sommer des Jahres 1428.
Der unermüdliche Gärtner schleppte ständig neue Gerüchte an. Jan Koldas Kapitulation und der Verlust des Stützpunktes am Zobten,
erzählte er, während er ein Nest mit nackten Mäusen zertrat, habe die Hussiten erzürnt. Mitte Juli, am Donnerstag nach St.
Margareta, hätten die Waisen mit einem raschen Konter Hirschberg angegriffen, erobert und niedergebrannt.
Obwohl er dazu etwas länger brauchte, lieferte der Gärtner auch Gerüchte aus Böhmen, Nachrichten, auf die Reynevan |623| und Samson sehnsüchtig gewartet hatten. Der Hauptmann der Prager Neustadt, Velek Kúdelník z Březnice, so erzählte der Gärtner,
während er Mist von einer Forke kratzte, sei um den St.-Urbans-Tag herum ins Land der Bayern eingefallen. Die Hussiten hätten
Neumarkt, die Residenz des Pfalzgrafen Otto, verbrannt und seien durch das Tal der Naab bis vor Regensburg gezogen. Gewissenhaft
geplündert und gründlich zerstört hätten sie das Zisterzienserkloster in Walderbach. Mit Wagen, voll beladen mit Beute, seien
sie nach Böhmen zurückgekehrt, Schutt und Asche hinterlassend.
Ungefähr zur selben Zeit, erzählte der Gärtner, in der Nase bohrend und seinen Fund mit Interesse betrachtend, sei Tábor,
um Herzog Albrecht Mores zu lehren, in einem wilden Zug in Österreich eingefallen. Brennend, raubend und alles verwüstend,
seien die Taboriten, die auf keinerlei Widerstand trafen, bis zur Donau gelangt. Obwohl es bis Wien nur noch ein kleines Wegstück
war, hätten sie den gewaltigen Fluss nicht bezwingen können. Zur Demonstration ihrer Macht hätten sie denn vom linken Ufer
aus ein bisschen mit ihren Büchsen geknallt, danach seien sie fortgezogen.
»Sicher war da auch unser Scharley dabei«, brummte Reynevan Samson zu, »und hat Unfug getrieben.«
»Na sicher doch«, gähnte der Riese und kratzte sich an seiner Schramme am Kopf. »Ich glaube nicht, dass er ohne uns bis nach
Konstantinopel gewandert ist.«
Am Vorabend von St. Jakob ließ die Äbtissin Reynevan ein zweites Mal zu sich rufen.
Diesmal las sie im ›Buch der göttlichen Tröstung‹ des Meister Eckart, einer schönen und reich illustrierten Handschrift.
»Du warst lange nicht in der Kirche«, sagte sie und blickte ihn über ihre Brillengläser hinweg an. »Du solltest hin und wieder
hingehen und vor dem Altar
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