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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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einzelne Wege, die das Leben mit Kristiane etwas leichter machten. Aber fast immer wanderte die Tochter durch ihre eigene Landschaft, nach ihrer eigenen Karte und ihrem unverständlichen Gutdünken.
    »Mama liebt dich mehr als den Himmel«, flüsterte Inger Johanne, ihre Lippen kitzelten das Ohr der Tochter, die lächelte.
    »Papa kommt«, sagte sie.
    »Ja, bald kommt Papa. Wenn er bei Omi und Opi gegessen hat, kommt er her zu seinem Mädchen.«
    Kristianes Blick war ganz und gar ausdruckslos. Ihre Augen schienen sich unabhängig voneinander zu bewegen, und das machte Inger Johanne Angst. Normalerweise waren sie auf etwas fixiert, was die anderen nicht sehen konnten.
    »Die Dame war …«
    »Sie heißt Albertine«, fiel Inger Johanne ihr ins Wort. »Albertine hat geschlafen.«
    »Es war so kalt. Ich konnte dich nicht finden, Mama.«
    »Aber ich habe dich gefunden. Am Ende.«
    Inger Johanne konzentrierte sich so sehr auf das Kind, dass sie nicht auf ihre Mutter geachtet hatte. Zunächst nahm sie deren Duft wahr, irgendein Parfüm, das sie von Inger Johannes Schwester bekommen hatte und das mehr gekostet hatte, als Inger Johanne in einem ganzen Jahr für Kosmetik ausgab.
    Geh weg, versuchte sie mit ihrem ganzen Wesen auszudrücken. Sie krümmte den Rücken und wich ein wenig zur Seite, noch immer in der Hocke.
    »Kristiane«, sagte ihre Mutter ruhig und entschieden. »Jetzt kommst du zu Oma. Zuerst machen wir das rote Geschenk mit dem rosa Band auf. Das ist für dich. Darin liegt eine Schachtel mit einem Deckel. Wenn du die Schachtel aufmachst und noch einen Deckel wegnimmst, findest du ein Mikroskop. Wie du es dir gewünscht hast. Jetzt halte ich dir die Hand hin, so …«
    Inger Johannes Hände lagen noch immer auf Kristianes schmalen Oberschenkeln.
    »Mikroskop«, sagte Kristiane. »Von griechisch micron, klein, und skopein, schauen.«
    »Ganz recht«, sagte die Großmutter. »Komm jetzt.«
    Der Knabenchor war verstummt. Ragnhild schaltete den Fernseher aus. Das taten auch die Nachbarn einen Stock tiefer. Aus der Küche strömte Kaffeeduft, und draußen war die Welt so still, wie sie das nur an diesem einen Abend im Jahr war, wenn die Kirchen leer waren, die Glocken nicht mehr läuteten, und niemand mehr auf dem Weg von etwas oder zu jemandem war.
    Die lange, schmale Hand der Großmutter stahl sich zu Kristianes.
    »Oma«, sagte das Mädchen und lächelte. »Ich will mein Mikroskop.«
    Aber dabei sah sie Inger Johanne an. Ihr Blick war fest und es dauerte, bis sie endlich mit ihrer Großmutter zum Sofa ging, um das Geschenk zu öffnen, das keine Überraschung mehr war.
    Inger Johanne erhob sich mit steifen Beinen.
    Ein Hauch von Glück streifte sie, um zu verfliegen, noch ehe sie danach hatte greifen oder ihn hatte erkennen können.
    Für Eva Karin Lysgaard war Glück ein klarer Begriff.
    Glück gab es im Glauben an Jesus Christus. An jedem einzelnen Tag, seit sie mit sechzehn auf einem Waldspaziergang dem Erlöser begegnet war, erlebte sie voller Freude Seine Nähe. Sie sprach mit Ihm, und oft bekam sie Antwort. Auch wenn sie traurig war, und natürlich kam das vor bei einer Frau von zweiundsechzig, war Jesus bei ihr, spendete Trost und Hilfe und unendliche Liebe.
    Es ging auf elf Uhr am Abend Seines Geburtstages zu.
    Eva Karin Lysgaard hatte eine Verabredung mit Jesus. Einen Pakt mit ihrem Ehemann Erik und mit ihrem Herrn. Als das Leben für sie und Erik nur noch aus Finsternis bestand, hatten sie einen Ausweg aus allen Schwierigkeiten erkannt. Es war nicht der einfachste Weg gewesen, sie hatten Zeit gebraucht, um ihn zu finden, und das alles musste geheim bleiben, zwischen ihr, Erik und dem Erlöser.
    Jetzt war sie dort. Auf dem Weg.
    Regen wehte vom Hafen herüber und schmeckte nach Salz. Hinter vielen Fenstern in den malerischen kleinen Häusern leuchtete noch sanftes Licht, für die meisten war der Heilige Abend noch nicht zu Ende. Sie stolperte über einen Pflasterstein, als sie um die Ecke von Forstandersmauet bog, fing sich aber schnell wieder. Ihre Brille war beschlagen, und sie konnte nicht klar sehen. Das spielte keine Rolle. Das hier war ihr Weg, sie war ihn schon oft gegangen.
    Verwundert blieb sie für einen Moment stehen.
    Es waren Schritte, die sie da hörte, ein Stück hinter sich.
    Sie war schon seit über zwanzig Minuten unterwegs und ihr war kein anderes Lebewesen begegnet als eine Hinterhofkatze und die Möwen, die jämmerlich über dem Hafenbecken schrien.
    »Bischöfin Lysgaard?«
    Sie

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