Gotteszahl
das Bild schon einmal gesehen zu haben. Sie konnte sich nur nicht erinnern, wo. Während sie die Frau noch anstarrte, merkte sie, dass ihre Kopfschmerzen verflogen waren. Rasch legte sie das Bild zurück, schob die Schublade zu, schloss ab und legte den Schlüssel zurück in sein Versteck.
Als sie Lukas’ Arbeitszimmer verließ, zog sie vorsichtig die Tür hinter sich zu, als hätte sie im Grunde doch etwas Unerlaubtes getan.
Der trostlose Stapel von unaufgeklärten Verbrechen in Silje Sørensens Büro verdarb ihr die Laune. Auf ihrem überfüllten Schreibtisch war kaum Platz für eine Kaffeetasse, auch wenn alles sorgfältig in Ordner sortiert war. Sie setzte sich in den Schreibtischsessel, schob eine Sammlung von Zeitungsausschnitten zur Seite und stellte die Tasse ab, ehe sie alles ein weiteres Mal durchging.
Sie musste ihre Prioritäten neu setzen.
Die Fälle stauten sich auf.
Die mehr oder weniger legalen Aktionen und Proteste der Polizeigewerkschaft gegen schlechte Arbeitsbedingungen, niedrigen Lohn, zu wenige Stellen und bedrohte Pensionsordnungen hatten den Tonfall zwischen Staat und Polizei im vergangenen Jahr verschärft. Die Polizei war nicht mehr bereit, Überstunden zu machen. Also dauerte alles länger. Die über 11 000 Gewerkschaftsmitglieder waren selbstbewusster geworden. Obwohl die Zahlen noch nicht vorlagen, sah es schon im Januar so aus, als wäre der Prozentsatz an aufgeklärten Fällen im Vergleich zum Vorjahr drastisch gesunken. Die Bediensteten pochten auf das Recht auf Freizeit und wurden häufiger krank. Oft bemerkenswert gleichzeitig, und oft vor Wochenenden, an denen mit besonderen Herausforderungen an den Arm des Gesetzes zu rechnen war.
Insgesamt war das Leben der Verbrecher leichter geworden.
Die Öffentlichkeit fühlte sich immer weniger sicher. Die Polizei, die noch nie als besonders vertrauenswürdig gegolten hatte, verlor bei der Bevölkerung weiter an Sympathie. Die Zeitungen berichteten immer häufiger von Verbrechensopfern, die keine Anzeige erstatten konnten, weil die lokale Wache nicht besetzt oder über das Wochenende geschlossen war, und Opfer von Einbrüchen mussten tagelang darauf warten, dass die Polizei kam und mögliche Spuren sicherte. Wenn sich überhaupt jemand blicken ließ.
Silje Sørensen war Gewerkschaftsmitglied, hatte aber längst aufgehört, über ihre Überstunden Buch zu führen. Ihr einziger Maßstab waren die Reaktionen zu Hause. Wenn die Söhne besonders unerträglich waren und ihr Mann einsilbig wurde, versuchte sie, mehr zu Hause zu sein. Ansonsten schlich sie sich möglichst oft außerhalb der regulären Arbeitszeit ins Büro.
Als einziges Kind eines Reeders war sie durchaus nicht für eine Laufbahn bei der Polizei ausersehen gewesen. Ihre Mutter war in einen Zustand aus Schock und Hysterie versunken, als sie von der Berufswahl ihrer Tochter erfahren hatte. Dieser Zustand hatte während des ersten Ausbildungsjahrs angehalten. Die Eltern hatten ein Vermögen für Internate in der Schweiz und in England ausgegeben, und jetzt wollte die Tochter ihre Zukunft im öffentlichen Dienst vergeuden. Und wenn sie sich schon durch den Umgang mit Gewaltverbrechern und Schlimmerem besudeln wollte, konnte sie dann nicht Anwältin werden? Oder wenigstens Polizeijuristin?
Aber auf genau diese Reaktion hatte Silje es angelegt.
Ihr Vater strahlte und küsste sie auf die Stirn, als sie erzählte, dass sie an der Polizeihochschule angenommen worden war.
Silje Sørensen hatte als Kind und Jugendliche niemals aufbegehrt. Auch nicht, als sie mit zehn Jahren ins Ausland geschickt wurde und ihre Eltern nur noch in den Ferien sah. Nicht als sie in dem Sommer, in dem sie fünfzehn wurde, zwei Monate an einer französischen Sprachenschule in der Schweiz zubringen musste, wo der Unterricht um halb sieben begann und die Ordensschwestern durchaus auch zu Strafmaßnahmen griffen, die von der Genfer Konvention verboten waren. Silje wehrte sich nicht einmal, als ihr Vater beschloss, dass sie fünf Schuljahre in zweieinhalb pressen sollte, sie hatte ihren Bachelor in Englisch, ehe sie neunzehn wurde. Inzwischen war sie volljährig, und zum Lohn für ihre stumme Geduld und ihren extremen Fleiß hatte ihr Vater seiner einzigen Tochter mehr als sein halbes Vermögen überschrieben.
Die Polizeihochschule wurde zu Silje Sørensens erster zielgerichteter Protestaktion.
Als sie in ihrem ersten Arbeitsjahr der legendären Hanne Wilhelmsen unterstellt wurde, erkannte sie sehr bald,
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