Gotteszahl
in Kindergarten und Schule abgeliefert waren. Keine ihrer Freundinnen war nur Hausfrau, abgesehen von dem obligatorischen Jahr nach der Geburt, aber sie hatte den Eindruck, dass die meisten sie um die Ruhe beneideten, die, wie sie glaubten, sich jeden Tag zwischen halb neun und Viertel nach vier über das Haus senkte.
Lange hatte sie das auch so empfunden.
Die tägliche Hausarbeit beanspruchte selten mehr als drei Stunden, oft war sie noch schneller erledigt. Obwohl sie die Kinder brachte und abholte und alle Einkäufe für die Familie tätigte, blieb viel Zeit übrig. Sie las. Sie ging gern spazieren. Zweimal pro Woche ging sie ins Fitnesscenter. Ganz selten verspürte sie einen Anflug von Langeweile. Dass alle Arbeit getan war und das Essen auf dem Tisch stand, wenn Lukas nach Hause kam, ließ die Nachmittage ruhig werden. Das Zusammensein angenehmer. Das Familienleben besser. Sie konnten ihre Zeit den Kindern widmen, und Lukas zeigte ihr jeden Tag, wie dankbar er war, dass sie sich für dieses Leben entschieden hatte.
Seit dem Tod der Schwiegermutter war alles anders.
Lukas trauerte auf eine Weise, die Astrid Angst machte.
Er schien so weit weg zu sein.
Er sagte wenig und konnte sogar zu den Kindern abweisend sein. Normalerweise setzte er sich mit dem Ältesten an die Schulaufgaben, aber jetzt schaffte er es offenbar nicht einmal, sich auf den Stoff für die zweite Klasse zu konzentrieren. Stattdessen mistete er die Garage aus, er wollte an einer Querwand neue Regale bauen. Es musste eiskalt sein, den ganzen Abend dort draußen zu stehen, und wenn er dann endlich ins Haus kam, aß er schweigend zu Abend und schlief ein, ohne sie anzurühren.
Das Haus war so still, und das gefiel ihr nicht.
Sie stellte das Bügeleisen hochkant hin und ging zur Fensterbank, um das Radio einzuschalten. Noch ein trostloser Tag presste sich gegen die nassen Fensterscheiben. Jetzt musste es doch bald zu regnen aufhören. Der Januar war immer ein schrecklich trauriger Monat, doch dieser war schlimmer als sonst. Der Tiefdruck beeinflusste sie auch physisch, seit Tagen schon wurde sie von leichten Kopfschmerzen gequält.
Jetzt waren sie schlimmer geworden. Stechender Schmerz hinter den Schläfen, den sie mit den Fingerspitzen wegzumassieren versuchte. Das half nichts. Sie wollte ins Badezimmer gehen und sich zwei Paracet holen, ehe sie weiterbügelte.
In dem verschließbaren Medizinschränkchen gab es nichts Schmerzstillendes. Verzweifelt wühlte sie zwischen Asterixpflastern und Flux, Jod und Mundwasser. Nichts gegen Schmerzen, abgesehen von Zäpfchen mit Kinderdosierung.
Die Kopfschmerzen schienen sofort schlimmer zu werden, als sie keine Medizin fand.
Lukas’ Migränepillen, dachte sie.
Die würden helfen.
Das Problem war, dass die nicht im Medizinschränkchen lagen. Lukas fand das Schloss zu einfach, und die starken Medikamente könnten für einen neugierigen und geschickten Achtjährigen gefährlich sein. Er hatte seine Medizin deshalb in einer Schublade in dem riesigen Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Astrid wusste, dass der Schlüssel hinter einer Erstausgabe von In achtzig Tagen um die Welt lag.Lukas hatte das Buch von seinen Eltern zum zwanzigsten Geburtstag bekommen.
Sie hatte die Schublade noch nie geöffnet und zögerte, ehe sie den Schlüssel ins Schloss steckte.
Sie hatten keine Geheimnisse voreinander, Lukas und sie.
Vielleicht sollte sie anrufen und fragen.
Er ist mein Mann, dachte sie verärgert, und sie brauchte doch nur eine Pille. Lukas hatte ihr nie verboten, die Schublade zu öffnen. Nie wären sie auf die Idee gekommen, sich gegenseitig solche Verbote aufzuerlegen.
Mit einem leisen Klicken sprang das Schloss auf. Sie zog die Schublade heraus und starrte ein Foto an. Eine Frau, es musste ein altes Bild sein. Zuerst blieb sie stehen und sah das Bild nur an, dann nahm sie es vorsichtig hoch und hielt es in das stärkere Licht der Schreibtischlampe.
Das Gesicht kam ihr bekannt vor. Nur konnte sie es nicht richtig unterbringen. Die Gesichtsform und die gerade Nase konnten durchaus an Lukas erinnern, aber das musste ein Zufall sein. Die Frau auf dem Bild hatte zudem diese witzige Zahnstellung, ein Vorderzahn schob sich ein wenig vor den anderen, aber das hatten viele. Lill Lindfors, zum Beispiel, hatte sie immer gesagt, als sie blutjung gewesen waren und sie in alles an ihm verliebt war.
Obwohl sie keine Ahnung hatte, wer die Frau auf dem Foto war, hatte sie das seltsame Gefühl,
Weitere Kostenlose Bücher