Gotteszahl
wahrnehmen, ist die Nähe des Herrn, dachte Richard Forrester. Und wenn die pervertierte Kopie eines Familienvaters diesmal noch ungeschoren blieb, so würde doch auch für ihn die Zeit kommen.
Richard Forrester lächelte leicht und schlief ein.
Das Haus schien oben an dem steilen Hang zu schlafen. Die Fenster waren klein, mit Kreuzen, die die Scheiben in vier Teile aufteilten. Das Holzhaus war zwischen zwei ähnlichen, aber größeren Häusern eingeklemmt. Es wirkte unscheinbar, fast verlegen. Ein kleiner Torweg führte in einen winzigen Hinterhof. Dort lehnte ein Damenrad an einer hohen Mauer, und etliche bunte Tontöpfe waren in einer Ecke aufeinandergestapelt. Eine Steintreppe führte zu einer kleinen grünen Tür. An der Tür hing ein Namensschild aus Porzellan. Der Name und die Wiesenblumen, die ihn umgaben, waren von Wind und Wetter blassblau gebleicht.
M. Brække stand dort in Schnörkelschrift.
Yngvar Stubø zögerte. Er stand auf der Steintreppe, mit dem Rücken zu dem schlichten schmiedeeisernen Geländer, und versuchte, sich das Ganze noch einmal zu überlegen.
Er war dabei, dieser Frau ein Geheimnis zu entreißen, das sie höchstwahrscheinlich schon seit fast einem halben Jahrhundert bewahrte. Wenn er den Finger auf den Messingknopf unter dem Türschild drückte, würde er in ein Leben eindringen, das auch so schon schwierig genug war. Die Frau, die in diesem kleinen weißen Haus lebte, hatte ihre Entscheidungen getroffen und ihr ganzes Leben im Schatten der Ehe einer anderen verbracht.
Auf der Herfahrt vom Flughafen hatte ihn die Kollegin von der Bergenser Polizei, die das Bild erkannt hatte, informiert. Martine Brække unterrichtete an Bergens Elitegymnasium Katedralskole, war unverheiratet und kinderlos. Sie lebte ein stilles, zurückgezogenes Leben, war aber eine geachtete Lehrerin und gab privat auch Klavierunterricht. In ihrer frühen Jugend war sie eine verheißungsvolle Konzertpianistin gewesen, hatte aber mit neunzehn Jahren eine Art von Rheumatismus entwickelt, was ihr die vorausgesagte strahlende Karriere ruinierte.
Leise, behutsame Töne waren plötzlich irgendwo im Haus zu hören.
Yngvar legte den Kopf schräg und lauschte dem Klavierstück. Er kannte es nicht. Es war leicht und tänzelnd, und er musste an den Frühling denken.
Er hob die Hand und klingelte.
Die Musik verstummte.
Als die Tür geöffnet wurde, erkannte er sie sofort. Sie war noch immer schön, aber ihre Augen waren rot gerändert, und ihre Lippen waren zerbissen und traurig.
»Ich bin Yngvar Stubø«, sagte er und hielt ihr die Hand hin. »Ich komme von der Polizei. Leider muss ich mit Ihnen über Eva Karin Lysgaard sprechen.«
Sie ließ ihn eintreten.
»Jetzt lass mich mit diesem Testament in Ruhe«, sagte Anwalt Fabers Sekretärin zu ihrem Mann, während sie mittags Brote schmierte. »Das geht dich ganz einfach nichts an.«
Bjarne saß mit der Kopie in der Hand am Küchentisch und starrte die kleinen Buchstaben aus zusammengekniffenen Lidern an. »Aber du musst doch begreifen«, sagte er ungewöhnlich hitzig, »das hier kann bedeuten, dass der Mann um ein beträchtliches Erbe betrogen worden ist.«
»Niclas Winter ist tot. Er hinterlässt keine leiblichen Erben. Das stand in der Zeitung. Einen Toten kann man um gar nichts betrügen. Es sei denn um das Leben.«
Sie schnaubte und klatschte eine großzügige Portion Lachs auf einen Berg aus Rührei. »So. Und jetzt wird gegessen.«
»Nein. Es ist mein Ernst, Vera!«
Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Hier kann die Rede von einem Verbrechen sein. In der Zeitung steht doch … «
Er schlug mit der anderen Hand auf die Tageszeitung, auf einen doppelseitigen Artikel über eine entsetzliche Bande aus den USA, die in ihrem aberwitzigen Hass auf Homosexuelle sechs Menschen umgebracht hatte. Bjarne Isaksen war geschockt. Nicht dass er etwas für die Schweinerei übrig gehabt hätte, die solche Leute betrieben, aber es musste doch wohl Grenzen geben. Man durfte nicht in Gottes Namen durch die Gegend rennen und andere umbringen, weil man deren Liebesleben nichts abgewinnen konnte.
»Niclas Winter ist umgebracht worden, das steht hier.«
Vera drehte sich zu ihm um, stemmte die Hände in die Hüften und räusperte sich, wie um Anlauf für ihre nun folgende kleine Rede zu nehmen. »Dieses Testament hat nichts mit Niclas Winters Tod zu tun. Ich habe dir diesen Artikel nun schon dreimal vorgelesen, und mit keinem Wort wird da Geld, Erbschaft oder Testament
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