Gotteszahl
was er uns mit so großer Mühe entzogen hat.«
Ironie, hatte Marcus schließlich gedacht. Eine herrliche Ironie.
»Papa?«, fragte Cusi ungeduldig. »Was steht hier? Was bedeutet das?«
Marcus Koll lächelte zerstreut und riss seinen Blick von der Aussicht auf Hügelkamm, Fjord und weißen Himmel los. Er hatte Hunger.
»So«, sagte er und drehte eine winzige Schraube ein. »Jetzt ist der ganze Rotor fertig. Dann müssen wir nur … Willst du?«
Der Junge nickte und brachte die vier Drehflügel an. »Wir haben es geschafft, Papa! Wir haben es geschafft! Können wir den jetzt fliegen lassen? Jetzt sofort?«
Er griff mit der einen Hand nach der Fernbedienung und mit der anderen nach dem fertigen Hubschrauber, vorsichtig, als glaube er selbst noch nicht, dass der wirklich solide war.
»Es ist zu kalt. Viel zu kalt. Du weißt doch, dass es noch ein paar Wochen dauern kann, bis wir ihn fliegen lassen.«
»Aber Papa …«
»Du hast es versprochen, Cusi. Du hast versprochen, nicht zu quengeln. Kannst du nicht lieber Rolf anrufen und fragen, ob er vor dem Mittagessen nach Hause kommen kann?«
Der Junge zögerte einen Moment, dann stellte er wortlos den Hubschrauber weg. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Jetzt kommen Oma und alle anderen«, rief er und stürzte hinaus.
Die Tür fiel hinter dem Jungen ins Schloss. Für einen Moment sangen Marcus ’ Ohren, dann füllten abermals nur das leise Schnarchen der schlafenden Hunde und das Knistern des Kaminfeuers das Wohnzimmer. Marcus’ Augen ruhten im Feuer, dann ließ er sie durch den Raum wandern.
Er lebte wirklich mitten in einem Klischee.
Das Haus auf dem Hügel.
Groß, vornehm von der Straße zurückgesetzt, nur das obere Geschoss war für eventuelle Vorübergehende zu sehen. Die alberne Holztäfelung an den Außenwänden hatte er beim Kauf des Grundstücks entfernen lassen wollen, ebenso die Grassoden auf dem Dach und das Tor vor der Garage mit der Inschrift: » Es ist schön, verreist zu sein, noch schöner ist ’ s im trauten Heim « , eingeschnitzt in grobes Holz und mit einem Drachenkopf auf jeder Seite. Ehe er damit anfangen konnte, trat Rolf in sein und Cusis Leben. Er lachte sich schief, als er die Pracht zum ersten Mal sah, und drohte, niemals dort einzuziehen, wenn Marcus nicht versprach, das originelle und gelinde gesagt rustikale Gepräge der Anlage zu behalten.
»Wir sind eine 0815-Familie with a twist « , hatte Rolf lachend über ihr Alltagsleben gesagt.
Ein wenig reicher als die meisten anderen, dachte Marcus, sagte aber nichts.
Rolf dachte nicht an das Geld. Er dachte an das Familienleben, an Cusi als Mittelpunkt in einem großen Kreis von Tanten und Onkeln, Vettern und Kusinen, Freunden, die kamen und gingen, er dachte an die Hunde und die Jagdwoche im Herbst, mit Freunden, alten Freunden, die Jungen, mit denen Marcus aufgewachsen war und die er niemals aufgegeben hatte. Rolf lachte immer herzlich über das glückliche, normale, spießige Leben, das sie führten.
Rolf war immer so fröhlich.
Alles war so gekommen, wie Marcus es sich erhofft hatte.
Sogar aus dem Geld des Vaters hatte er Gutes machen können. Der Vater hatte ihn zur Verdammnis verurteilt und ihn verloren gewähnt. Georg Koll hatte seinem Sohn, indem er ihm die Zukunft abgesprochen hatte, paradoxerweise eine gegeben. Die wilden Jahre lagen hinter ihm, und Marcus war der Krankheit ausgewichen, die so viele seiner Bekannten weggerissen hatte, in Schmerz und Schande und oft in Einsamkeit. Er war dafür zutiefst dankbar, und als er den Brief des Vaters verbrannte, beschloss er, Georg Koll Lügen zu strafen. Gründlich und nachdrücklich. Marcus sollte das werden, was sein Vater nie geworden war: ein Mann.
»Papa!«
Der Junge kam ins Wohnzimmer gerannt und breitete die Arme aus. »Alle kommen! Rolf hat gesagt, dass die miese Töle drei Welpen geworfen hat, und alles ist gut und er ist auf dem Heimweg und freut sich …«
»Schon gut, schon gut.«
Marcus lachte und stand auf, um hinter dem Jungen in die Diele zu treten. Er hörte mehrere Autos auf dem Hofplatz vorfahren, die Gäste kamen.
In der Wohnzimmertür blieb er für einen Moment stehen und schaute sich um.
Der Zweifel, der seit einigen Wochen an ihm gezehrt hatte, war endlich verschwunden. Er besaß einen scharfen Instinkt und hatte damit ein Vermögen verdient. Im Frühsommer 2007 hatte er mehrere Wochen lang einem starken Drang widerstanden, auf dem Aktienmarkt einen Ausverkauf zu veranstalten. Er
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