Gotteszahl
Lysgaard.
»… jemanden verloren haben, ist es etwas ganz anderes, wenn das durch ein Verbrechen geschieht. Ein Verbrechen von dieser Art …«
Ich hab doch keine Ahnung, was das für ein Verbrechen ist, dachte er, als er das sagte. Streng genommen wussten sie bisher rein gar nichts.
»… verletzt noch andere als das Opfer. Es kann einfach jeden Menschen umwerfen. Es ist …«
Erik Lysgaards Sohn, Lukas Lysgaard, öffnete zum ersten Mal den Mund, seit er Yngvar die Tür geöffnet und ihn ins Wohnzimmer geführt hatte. Er hatte verweint und erschöpft gewirkt, aber gefasst. Bisher hatte er still am Fenster zum Garten gestanden.
Jetzt runzelte er die Stirn und trat zwei Schritte näher. »Ich glaube eigentlich nicht, dass mein Vater Trost braucht. Nicht von Ihnen jedenfalls, bei allem Respekt. Mein Vater und ich würden am liebsten allein sein. Wir haben uns zu dieser Vernehmung …«
Er korrigierte sich rasch selbst. »…zu diesem Gespräch bereit erklärt, weil wir natürlich der Polizei nach besten Kräften helfen wollen. Unter den obwaltenden Umständen. Wie Sie wissen, bin ich bereit, mich, sowie Sie wollen, bei der Polizei vernehmen zu lassen, was aber meinen Vater angeht …«
Der Vater richtete sich im Sessel auf, kniff die Lider zusammen und hob das Kinn. »Was möchten Sie wissen?«, fragte er und schaute Yngvar in die Augen.
Idiot, dachte Yngvar und meinte sich selbst.
»Tut mir leid«, sagte er. »Natürlich hätte ich Sie in Ruhe lassen müssen. Es ist nur … dieses eine Mal haben wir nicht die Medien auf den Fersen. Dieses eine Mal könnte es möglich sein, vor der Bande da draußen einen winzigen Vorsprung zu haben.«
Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter, als lungere die Pressemeute bereits auf der Treppe herum.
»Aber ich hätte es besser wissen müssen. Sie werden heute in Ruhe gelassen. Natürlich.«
Er erhob sich und nahm den Mantel, der über einem weiteren Esszimmerstuhl hing.
Erik Lysgaard starrte ihn verwundert an, mit halb offenem Mund und einer Furche in der Stirn, gleich über den dicken Brillengläsern mit der schweren schwarzen Fassung. »Haben Sie keine Fragen?«, fragte er vorsichtig.
»Doch. Zahllose. Aber wie gesagt: Das hat Zeit. Dürfte ich wohl Ihre Toilette benutzen, ehe ich gehe?«
Diese Frage richtete er an Lukas.
»Auf dem Gang, zweite Tür links.«
Yngvar nickte Erik Lysgaard kurz zu und ging zur Tür. Auf halber Strecke drehte er sich um.
Zögerte.
»Nur eins«, sagte er und kratzte sich die Wange. »Dürfte ich wohl fragen, warum Bischöfin Lysgaard um elf Uhr am Heiligen Abend allein auf der Straße unterwegs war?«
Eine seltsame Stille folgte auf diese Frage.
Der Sohn sah den Vater an, in diesem Blick lag aber eigentlich keine Frage. Nur ein ausdrucksloses Abwarten, als wüsste er die Antwort oder fände die Frage uninteressant.
Erik Lysgaard hingegen legte die Hände auf die Armlehnen, ließ sich zurücksinken und holte tief Luft, ehe er Yngvar abermals in die Augen schaute. »Das geht Sie nichts an.«
»Was?«
Yngvar fing unpassenderweise an zu lachen. »Was haben Sie gesagt?«
»Ich habe gesagt, dass Sie das nichts angeht.«
»Na gut. Ich glaube aber, wir werden uns gezwungen sehen …«
Wieder wurde es still.
»Wir sprechen später darüber«, fügte er endlich hinzu, grüßte den Witwer mit erhobener Hand und verließ das Zimmer.
Die überraschende und absurde Antwort hatte ihn für einen Moment den Druck auf der Blase vergessen lassen. Als er die Tür hinter sich zuzog, merkte er, wie sehr die Sache eilte.
»Auf dem Gang, zweite Tür rechts.«
Er murmelte vor sich hin, legte die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür.
Ein Schlafzimmer. Nicht groß, vielleicht zehn Quadratmeter. Rechteckig, das Fenster an der Querseite, der Tür gegenüber. Darunter ein ordentlich gemachtes Einzelbett mit fliederfarbener Bettwäsche. Am Kopfende, auf dem Kissen, ein zusammengelegtes Kleidungsstück. Für die Nacht, vermutete Yngvar und schnupperte.
Einwandfrei kein Gästezimmer.
Süßlicher Parfümduft mischte sich mit einem schwachen, abgestandenen Geruch.
Die Tür ließ sich nicht ganz öffnen, sie stieß gegen einen Schrank im Zimmer.
Er müsste die Tür schließen und die Toilette suchen.
Es gab keinen Schreibtisch in dem kleinen Zimmer, nur einen Nachttisch mit einem Stapel Bücher und einer Lampe unter einem Regalbrett mit vier gerahmten Familienbildern. Er erkannte Erik und Lukas sofort, dazu gab es ein altes
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