Gotteszahl
SchwarzWeiß-Foto, das vermutlich die kleine Familie vor vielen Jahren zeigte, als Lukas klein war, im Sommer in einem Boot.
Das war alles.
»Hallo! Das ist ein Irrtum!«
Yngvar zuckte zusammen, als Lukas Lysgaard auf ihn zukam und die Hände hob.
»Was soll das hier eigentlich? Schnüffeln Sie in unserem Haus herum? Wer hat Ihnen erlaubt …«
»Auf dem Gang, zweite Tür rechts, haben Sie gesagt. Ich wollte nur …«
»Zweite Tür links! Hier!«
Lukas zeigte wütend auf die Yngvar gegenüberliegende Tür.
»Ach. Tut mir leid. Ich wollte nicht …«
»Können Sie nicht bald dafür sorgen, dass Sie fertig sind? Ich will mit meinem Vater allein sein.«
Lukas Lysgaard mochte um die fünfunddreißig sein. Ein ganz gewöhnlich aussehender junger Mann mit ungewöhnlich breiten Schultern. Er hatte dunkle Haare mit tiefen Geheimratsecken, seine Augen waren vermutlich blau. Es war schwer zu sagen, sie waren schmal und versteckten sich hinter Brillengläsern, die das Licht der Deckenlampe reflektierten.
»Meine Mutter konnte manchmal nicht schlafen«, sagte er, als Yngvar die richtige Tür öffnete. »Und dann hat sie … Um meinen Vater nicht zu stören, deshalb …«
Er nickte zu dem kleinen Schlafzimmer hinüber.
»Alles klar«, sagte Yngvar und ging auf die Toilette.
Er ließ sich Zeit. Er hätte viel dafür gegeben, das Schlafzimmer noch einmal ansehen zu können. Er ärgerte sich, nicht besser aufgepasst zu haben. Sich nicht mehr gemerkt zu haben. Er wusste zum Beispiel nicht mehr, welche Kleider über dem Stuhl gehangen hatten, Festkleidung nach dem Heiligen Abend oder Alltagskleidung. Er hatte sich auch nicht gemerkt, welche Bücher auf dem Nachttisch lagen. Es bestand absolut kein Grund zu der Annahme, dass jemand in dieser Familie irgendetwas mit dem Mord an einer offenbar geliebten Ehefrau und Mutter zu tun haben könnte. Trotzdem wusste Yngvar Stubø, dass die Lösung zu einem Mordrätsel fast immer beim Opfer selbst zu finden war. Es konnte sich um Dinge handeln, die die nächsten Angehörigen nicht ahnten. Es konnte auch irgendein Detail sein, etwas, worauf weder das Opfer noch andere geachtet hatten.
Aber es konnte sehr wichtig sein.
Eins steht jedenfalls fest, dachte er, während er den Reißverschluss hochzog und die Spülung betätigte. Eva Karin Lysgaard musste gewaltige Schlafprobleme gehabt haben, wenn sie jedes Mal in diesem kleinen Mädchenzimmer Zuflucht gesucht hatte. Eine bessere Erklärung war wohl, dass das Ehepaar getrennt schlief.
Er wusch sich die Hände, trocknete sie gründlich ab und trat hinaus auf den Gang.
Lukas Lysgaard erwartete ihn und öffnete die Haustür. »Dann hören wir wohl von Ihnen«, sagte er, ohne Yngvar die Hand hinzuhalten.
»Natürlich.«
Yngvar zog den Mantel an und trat hinaus in den kleinen Windfang. Er wollte schon » weiterhin fröhliche Weihnachten « wünschen, riss sich aber glücklicherweise zusammen, im letzten Moment.
Der Fremde
»Weiterhin fröhliche Weihnachten. Mach es dir gemütlich!«
Hauptkommissarin Silje Sørensen lief die Treppen hinunter und winkte einem Kollegen zu, der auf dem Weg aus dem fast leeren Polizeigebäude für einen Plausch stehen geblieben war. Das große Haus war für Publikumsverkehr geschlossen, abgesehen von der Kriminalwache, wo ein gähnender Kollege ihr durch die Glasscheibe zunickte, als sie durch den schleusenartigen Eingang zum Grønlandsleiret 44 ging.
»Die Kinder sitzen im Auto«, rief sie zur Erklärung. »Will nur schnell die Skier holen, die stehen im Büro, weil …«
Der Kollege hatte das Haus bereits verlassen. Silje Sørensen hatte das richtige Stockwerk erreicht. Atemlos bog sie in den Gang zu ihrem Büro ab. Sie kämpfte mit den Schlüsseln. Die waren eiskalt, nachdem sie über Nacht im Auto gelegen hatten. Außerdem hatte sie viel zu viele Schlüssel an diesem Bund, mindestens die Hälfte hätte sie gar nicht mehr zuordnen können.
Irgendwann hatte der Architekt für das Polizeigebäude einen Preis gewonnen. Es war schwer zu begreifen. Hinter dem engen Eingangsbereich hatte man zunächst das Gefühl, dass hier Licht und Luft zählten. Das gigantische Foyer erstreckte sich über viele Etagen in die Höhe, umgeben von Galerien wie ein eckiges Hufeisen. Die Büros dagegen waren Käfige in langen, bedrückenden Gängen. Silje Sørensen kam ihr Büro immer stickig und eng vor, egal wie oft sie lüftete.
Von draußen sah das Haus aus, als habe es die wechselnden Jahreszeiten nicht
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