Gotteszahl
gehabt habe. Ich reagierte sofort darauf, da ich seit sechs Wochen vergeblich versuche, den minderjährigen kurdischen Asylbwerber Hawre Ghani ausfindig zu machen, im Zusammenhang mit seinem Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung in Norwegen. Bei einer Bandenschlägerei in Oslo City im September (übrigens registriert als eigener Fall, Reg-Nr. 98 ***** 37 ****/08) wurde Hawre Ghani der rechte obere Schneidezahn ausgeschlagen. Er wurde nach dem Zwischenfall aufgegriffen, und ich habe ihn am selben Tag zum Zahnarzt begleitet. Er wünschte sich einen Silberzahn, keine weiße Krone, und meines Wissens wurde das in Zusammenarbeit zwischen Jugendamt, Asylantenheim und besagtem Zahnarzt so entschieden.
Da bisher keine Vermisstenanzeigen vorliegen, die dem Fund im Osloer Hafenbecken entsprechen können, bitte ich den Zuständigen, sich mit Zahnarzt Dag Brå, Tåsensenteret, Telefon 2229****, in Verbindung zu setzen, um das Gebiss des Toten mit den dortigen Bildern/Archivmaterial zu vergleichen.
Silje Sørensen blätterte zum letzten Blatt im Ordner weiter.
Es war die Kopie eines handgeschriebenen Briefes an Harald Bull:
Hallo Harald!
Da Weihnachten ist, habe ich am heutigen Heiligen Abend kurz und überaus unwissenschaftlich die Sache überprüft. Zahnarzt Brå war bereit, mich heute Morgen in seiner Praxis zu treffen. Ich legte ihm einige Bilder vom Gebiss des Toten vor, die ich selbst gemacht hatte (ich habe am Sonntagmorgen auf Aker Brygge einige Aufnahmen gemacht, nicht von guter Qualität, aber einen Versuch wert). Er hat sie mit seinen Notizen und Röntgenbildern verglichen und kommt zu dem vorläufigen Schluss, dass es sich bei dem Toten um besagten minderjährigen kurdischen Asylbewerber handelt. Alle Unterlagen des Falls sind in Kopie ans Rechtsmedizinische Institut übersandt worden. Ich nehme an, dass gleich im neuen Jahr eine offizielle Antwort vorliegen wird. Vielleicht sogar noch vorher, wenn uns alle guten Mächte beistehen. Ich schreibe einen Bericht darüber, sowie ich wieder im Büro bin. Jetzt will ich URLAUB haben.
Fröhliche Weihnachten.
Bengt.
PS. Ich habe gestern mit der Gerichtsmedizin gesprochen. Es gibt Hinweise darauf, dass der Tote mit einem der Garrotte ähnlichen Gegenstand getötet worden ist. Ein Wunder, dass der Kopf noch am Rumpf sitzt, sagte die Frau, mit der ich gesprochen habe. Wir sollten also vielleicht überlegen, ob wir den Fall jetzt schon an die Mordkommission weitergeben.
Ders.
Silje Sørensen klappte den Ordner zu und ließ sich im Sessel zurücksinken. Sie schwitzte. Die gute Laune, die sie ins Büro mitgebracht hatte, war wie weggeblasen, und sie bereute, den Ordner aufgemacht zu haben.
Jetzt hätte sie sich am liebsten noch einmal den jungen Mann angesehen, den elternlosen, wurzellosen, heimatlosen kurdischen Jungen mit Silberzahn und glatten Wangen. Egal, wie oft sie auf solche Kinder stieß, und die Götter wussten, dass das gar zu oft der Fall war, konnte sie sich nicht distanzieren. Ab und zu, wenn sie abends bei ihren eigenen zwei Söhnen hineinschaute, die sich nun für zu alt für einen Gutenachtkuss hielten, die aber trotzdem nicht einschlafen konnten, ehe sie nicht die Decke um sie festgestopft hatte, empfand sie etwas, das Ähnlichkeit mit Schuldgefühlen hatte.
Vielleicht sogar mit Scham.
Eine Autohupe zerriss die Stille und ließ ihr Herz einen Schlag aussetzen. Sie riss das Fenster auf und schaute zum Kreisverkehr vor Eingangsbereich und Kriminalwache hinunter.
»Mama! Mama, kommst du baaaald?«
Der jüngere Sohn hing aus dem Autofenster und schrie. Silje Sørensen ärgerte sich. Rasch legte sie Hawre Ghanis Ordner ganz oben in den Korb der zu erledigenden Dinge, dann schnappte sie sich den Klebezettel mit Harald Bulls Nummer und steckte ihn in die Tasche.
Als sie die Tür hinter sich abgeschlossen hatte und zum Foyer hinunterlief, in der Hoffnung, schnell genug beim Auto zu sein, um ihren Sohn an weiterem Geheul hindern zu können, hatte sie vergessen, warum sie am frühen Nachmittag des ersten Weihnachtstags auf dem Weg zum Essen bei ihren Schwiegereltern überhaupt ins Büro gegangen war.
Wegen der Skier.
Die standen noch immer hinter der Bürotür. Als Silje Sørensen endlich einfiel, was sie vergessen hatte, war es zu spät.
Es war noch nicht zu spät, stellte der Chefredakteur fest. Die Erkennungsmelodie würde erst in zwei Minuten ertönen, aber da es keine Spitzennachricht war, würden sie gegen Ende der Sendung problemlos eine keine Meldung
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