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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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vertragen und sei schief und krumm geworden, während es sich an die Anhöhe zwischen dem Osloer Kreisgefängnis und der Kirche von Grønland klammerte. In ihren fünfzehn Jahren bei der Polizei hatte Silje Sørensen gesehen, wie Stadt, Staat und optimistische Fans versucht hatten, die Gegend nach oben zu bringen. Aber der schöne Mittelalterpark lag zu weit weg, um Glanz auf das heruntergekommene Polizeigebäude zu werfen. Die Oper war von ihrem Fenster nur ein schräges weißes Dach über verdreckten Häuserblocks und unter einem Deckel aus Abgasen.
    Sie wollte schon das Fenster öffnen, hatte es aber eilig.
    Ihr Blick fegte über den Schreibtisch. Sie hielt in ihrem Büro peinliche Ordnung, anders als zu Hause. Der überfüllte Korb für unerledigte Dinge am Rand des Schreibtischs hatte auf ihrem Gewissen gelastet, als sie am Freitag vor den Feiertagen das Büro verlassen hatte. Der Korb für erledigte Dinge war leer, und sie schluckte beim Gedanken an den Stress, der sie am ersten Tag nach den Ferien erwarten würde.
    Mitten auf dem Tisch lag ein ihr unbekannter Ordner.
    Sie beugte sich darüber und las den gelben Zettel, der auf dem Deckel klebte.
    Kol. Sørensen.
    Beiliegend einige Unterlagen über Hawre Ghani, vermutlich geboren am 16.12.1991. Bitte so bald wie möglich melden.
    Harald Bull, Tel 937 *****/231 ****
    Die Kinder würden nörgeln, wenn sie sie zu lange warten ließe. Andererseits hatten sie zufrieden mit ihren Nintendo DS auf der Rückbank gesessen, als sie bei laufendem Motor ausgestiegen war. Da sie die Spiele erst zu Weihnachten bekommen hatten, konnte sie hoffen, dass die Lage doch nicht so ernst wäre.
    Sie setzte sich im Mantel an den Tisch und schlug den Ordner auf.
    Oben lag ein Bild. Es war schwarz-weiß und grobkörnig, mit scharfen Schatten. Es konnte eine Vergrößerung für irgendeinen Ausweis sein, erfüllte aber wohl kaum die Ansprüche, die an ein Passfoto gestellt wurden. Der Junge, denn es war eher ein Junge als ein erwachsener Mann, hatte die Lider halb geschlossen. Sein Mund stand offen. Festgenommene schnitten manchmal beim Fotografieren Grimassen, um nicht so leicht zu erkennen zu sein. Aus irgendeinem Grund glaubte sie aber nicht, dass das bei diesem Jungen der Fall war. Vielleicht hatte der Fotograf in aller Eile nur dieses eine Bild gemacht.
    Hawre Ghani hatte keine besondere Bedeutung gehabt.
    War nicht wichtig genug gewesen.
    Das Foto rührte sie.
    Der Mund des Jungen glänzte, als hätte er sich die Lippen geleckt. Die füllige Oberlippe mit dem tiefen Amorbogen hatte etwas Kindliches und Verletzliches. Um die Augen war die Haut glatt, und die Wangen wiesen keinerlei Bartwuchs auf. Der Flaum unter der großen Nase, die das Gesicht beherrschte, war das Einzige, was erzählte, dass sie es hier mit einem Jungen zu tun hatte, der in der Pubertät schon ziemlich weit gekommen war. Überhaupt hatte das Gesicht etwas jugendlich Unproportioniertes. Etwas Welpenhaftes. Sie rechnete kurz nach und kam zu dem Ergebnis, dass Hawre Ghani soeben siebzehn geworden war.
    Länger hatte er nicht leben dürfen.
    Silje Sørensen arbeitete seit Jahren in der Sektion für Gewalt- und Sittlichkeitsdelikte, und sie hatte mehr gesehen, als sie als junge Polizeianwärterin für möglich gehalten hatte. Aber beim nächsten Blick fuhr sie doch zurück. Etwas, das ein Gesicht sein musste, lag in einer Kapuze aus dunklem Stoff. Alle Züge waren ausgewischt, die Haut hatte sich verfärbt und war heftig aufgedunsen. Die eine Augenhöhle war groß und leer, die andere kaum zu sehen. Die Oberlippe der Leiche war halbwegs in einem gezackten Riss verschwunden, der vier weiße und einen silbernen Zahn bloßlegte. Sie nahm jedenfalls an, dass es Silber war, auf dem Foto war der Zahn eher ein dunkler Kontrast zum restlichen kreideweißen Gebiss.
    Rasch blätterte sie weiter.
    Der vorletzte Bogen in dem dünnen Ordner war ein Bericht, den jemand bei der Ausländerabteilung geschrieben hatte. Sie hatte noch nie von diesem Kollegen gehört. Der Bericht trug das Datum vom 23. Dezember 2008.
    Das war vor zwei Tagen gewesen.
    War heute Morgen im Hause, um zwei festgenommene Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung zum Sammellager Trandum zu bringen. Hörte zufällig im Arrest, wie zwei Kollegen über einen unbekannten Toten sprachen, der am frühen Sonntagmorgen im Osloer Hafenbecken gefunden wurde. Einer der Kollegen erwähnte, dass die teilweise in Auflösung übergegangene Leiche einen Silberzahn im Oberkiefer

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