Gotteszahl
Kokosfüllung.
»Du hast die besten genommen«, murmelte er verärgert.
Der Chefredakteur gab keine Antwort. Etwas hatte ihm die Sprache verschlagen, und er biss so hart auf seinen Bleistift, dass dieser brach. Seine Augen ruhten auf seinem Bildschirm, er schien sich jedoch nicht darauf zu konzentrieren. »Du«, rief er plötzlich der jungen Aushilfe zu. »Beate! Herkommen!«
Sie zögerte kurz, dann sprang sie von ihrem Arbeitsplatz auf.
»Wenn du die kleine Sache für die Neunuhrsendung fertig hast«, sagte der Chefredakteur und zeigte mit dem ruinierten Bleistift auf sie. »Dann klingelst du ein bisschen herum, okay? Stell fest, woran die Frau gestorben ist. Ich rieche … eine Story. Vielleicht.«
»Danach soll ich rumklingeln? So spät am ersten Weihnachtstag?«
Der Chefredakteur seufzte. »Willst du Journalistin werden oder nicht? Na los. Auf geht’s.«
Beate Krohn verzog keine Miene.
»Du hast doch gesagt, dass deine Eltern sie gekannt haben, also ruf sie an. Ruf an, wen du willst, verdammt noch mal, aber stell fest, woran die Bischöfin gestorben ist. Okay?«
»Okay«, murmelte die junge Frau und hätte sich am liebsten gedrückt.
Es war nicht so, dass Inger Johanne sich drücken wollte. Es war nur so schwer, in Gang zu kommen. Seit sie im Frühjahr 2000 im Fach Kriminologie promoviert worden war, hatte sie zwei neue Projekte durchgeführt. Nach ihrer Disputation zum Thema Sexualisierte Gewalt, eine vergleichende Studie von Kindheitseinflüssen und Früherfahrungen bei Sexual- und anderen Gewaltverbrechern war ihr ein Postgraduiertenstipendium zuerkannt worden, um eine fast ebenso umfassende Studie über norwegische Justizirrtümer zu verfassen. Gegen Ende des Projekts war Ragnhild gekommen. Yngvar und Inger Johanne hatten beschlossen, dass sie zwei Jahre mit der Tochter zu Hause bleiben sollte, aber noch vor Ablauf dieser Zeit hatte sie ihr jüngstes Projekt begonnen. Eine Studie über minderjährige Prostituierte. Hintergründe, Lebensumstände und die Möglichkeiten des Ausstiegs.
Im Sommer hatte sie an einem Auftrag der Polizeileitung gearbeitet.
Ingelin Killengreen hatte Kontakt zu ihr aufgenommen. Die Polizeipräsidentin hatte aufgrund klarer Signale aus politischen Kreisen Hassverbrechen auf die Tagesordnung gesetzt.
Das Problem war nur, dass diese Art von Kriminalität fast nicht existierte.
Natürlich existierte sie.
Aber nicht rein zahlenmäßig. Nicht statistisch. Die Polizeileitung selbst hatte, in Zusammenarbeit mit dem Polizeiabschnitt Oslo, bereits einen Überblick über alle Anzeigen des Jahres 2007 angelegt, wo das Motiv für das Verbrechen mit Hautfarbe, ethnischer Herkunft, Religion oder sexueller Veranlagung zu tun haben sollte. Der Abschlussbericht würde in Kürze vorliegen, und Inger Johanne hatte einen Großteil des Materials bereits gesichtet.
Die Zahlen waren verschwindend gering.
Im Jahr 2007 waren in ganz Norwegen 399 Fälle von hassmotivierter Kriminalität registriert worden. Von diesen Fällen waren über 35 Prozent ganz einfach im falschen polizeilichen Register gelandet. Es konnte, mit anderen Worten, nur in etwas mehr als 250 Fällen die Rede von Hasskriminalität sein.
In einem ganzen Jahr. In einem Land mit über fünf Millionen Einwohnern.
Im Vergleich zur Gesamtmenge der zur Anzeige gebrachten Vergehen war diese Zahl ganz einfach uninteressant.
Aber da in der politischen Landschaft jeder einzelne von Hass motivierte Übergriff einer zu viel war, da die Dunkelziffer für diese Art von Kriminalität zweifellos groß war und da die rot-grüne Regierung im Herbst 2009 mit einem Trumpf im Ärmel zur Wahl schreiten wollte, für alle Minderheiten, die jedes Mal aufheulten, wenn in der Stadt ein Schwuler niedergeschlagen oder wenn die Synagoge auf St. Hanshaugen besudelt oder gar verwüstet wurde, sollte Inger Johanne eine genauere Untersuchung dieses Phänomens vornehmen.
Der Auftrag war so vage formuliert, dass sie den ganzen Herbst gebraucht hatte, um die Arbeit zu definieren und einzugrenzen. Außerdem hatte sie mit der Sammlung der relativ umfangreichen Datenmenge aus anderen Ländern begonnen. Vor allem aus den USA, aber auch mehrere europäische Länder hatten diese besondere Form von Gesetzesbruch schon seit langer Zeit stigmatisiert und teilweise bearbeitet. Das Material wuchs, ohne dass sie bereits hätte sehen können, was ihre genaue Aufgabe war und worauf sie hinauslief.
Dann kam die Finanzkrise.
Die vielen öffentlichen Milliarden.
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